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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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gehen kann.
    Als Reaktion verfluchten die Jungen meine Mutter, meine Großmutter sowie die Schwester, die ich nicht habe. An diesem Punkt merkte ich, dass ich immer noch die glänzende Plastiktüte mit roten Punkten aus dem Klamottenladen in der Hand hatte. Ich ließ sie fallen wie ein ekliges Insekt. Dann hob ich sie wieder auf und schaute mir die Jacke an: die makellose Geographie ihrer Taschen, die kräftige Farbe des Leders, das fette Silber der Knöpfe. Ich knibbelte den obersten Knopf mit den Fingern ab. Den zweiten riss ich gleich mit einem Ruck weg. Und den dritten biss ich mit den Zähnen ab, spuckte ihn jedoch gleich wieder aus. Am Schluss gab ich es auf, auch weil die Kids nicht mehr zuschauten. Einer der beiden hatte sich den ausgespuckten Knopf unter den Nagel gerissen, weil er dachte, er sei etwas wert. Dann packte ich die Jacke mit beiden Händen und versenkte das vermaledeite knallrosa Ding im Müllcontainer. Das war genau der Moment, in dem ich die beiden verhunzten Kleider fand.
    Ich stieg die Treppe unseres verfallenden Hauses an der Christopher Road hoch, das einen Katzensprung von der Kirche des stillgelegten Friedhofs entfernt liegt. Arm sind wir nie gewesen, aber mein Vater besaß einen perversen Hang zu Dingen, die keiner mehr haben will, weil er sich auf diese Weise weniger bourgeois vorkam. Dabei war doch mein Vater die meiste Zeit in der Redaktion, während meine Mutter immer zu Hause war und Flöte spielte.
    Hier kam fast nie jemand vorbei, höchstens mal ein Kid mit ausländischem Akzent, das dir die Brieftasche klauen wollte. Nachts war es noch schlimmer, dann verschwanden auch die Kids, und du hättest deinen Arm darum gegeben, sie wenigstens vorbeigehen zu sehen, aber nichts da, rein gar nichts, eine grauenvolle Wiederkehr der Zeit vor dem Urknall. Unser Haus wurde zu einem Haus im Nirgendwo, zu einem schmalen Floß an der Mündung der Nacht, mit seinen drei schmächtigen Stockwerken, wie trunken von Feuchtigkeit, voller Staub und faulen Gerüchen, und den dünnen Wänden, die uns jeden heftigen Windstoß und jeden Regenguss zum Vorwurf machten.
    Im Erdgeschoss, dort, wo man der Hölle, den Löchern, in denen die Toten verwesen, und den Skeletten, die dich aus leeren Augenhöhlen voller Würmer anschauen, näher war, lag das Wohnzimmer mit dem verstaubten Fernseher, der nur Channel 4 empfing, und den beiden einst funkelnagelneuen Fahrrädern, die Reifen platt auf dem Teppichboden.
    Auf der steilen, knarzenden Treppe ging es hoch in den ersten Stock, wo ich wohnte, und in den obersten Stock mit dem Zimmer, in dem der lebende Leichnam meiner Mutter sein Dasein fristete.
    Und der Grund, warum ich manchmal lieber nach rechts abbog und auf den Friedhof ging.
    Da waren die Lämpchen über dem Spiegel.
    Da war die Geisha auf der Kommode.
    Da war der indische Teppich.
    Da waren die Bücher über Taoismus, von damals, als ich noch in Turin in der Via Vanchiglia wohnte … Ach, und die vergilbten Märchenbücher, die auch vergilbt weiterleben, und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch.
    Ich hatte bereits alles in die neue Wohnung an der Victoria Road gebracht. So macht man es eben normalerweise: Sachen werden in Wohnungen gebracht, Teppiche werden von Menschen zertrampelt, und auf Pressspanregalen stapeln sich die Geschichten mit Happy End. Und so wäre es fast wirklich passiert, doch kurz vorher ist alles in die Löcher gefallen, die Sachen und die Häuser und die Teppiche, und selbst die Prinzessinnen, die auf immer und ewig ihren ersten Kuss bekommen, denn es brach das Jahr minus drei an.
    Im Dezember. 2004. Wenn ich das Jahr schreibe, falle ich mitten zwischen die beiden Nullen.
    2004 hatte mein Vater diese Londoner Geliebte und fuhr in den Graben.
    Ganz gewiss besteht eine logische Verbindung zwischen diesen beiden Dingen. Dass er zum Beispiel an dem Tag, an dem sein Wagen in den Graben gerumst war, vorher mit Liz Turpey gebumst hatte und sie mit ihrem affigen südenglischen Akzent gestöhnt hatte. Natürlich kann ich gar nicht wissen, ob sie gestöhnt hat, aber ich habe die schlechte Angewohnheit, mir Sachen vorzustellen, die wehtun. Jedenfalls saß sie an diesem zwölften Dezember 2004 bei ihm im Wagen, das habe ich mir nicht eingebildet, weil sie die beiden Toten zusammen aus dem Wagen gezogen haben und ich es später im Krankenhaus hörte.
    Ihre Bluse aus roter Seide mit dem riesigen Markennamen auf der Brust, als wäre es ein Chiquitaaufkleber, war immer noch
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