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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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hatte sich kaum bewegt. Nur das Doppelkinn war deutlich ins Wabbeln gekommen.
    »Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Scheiß.«
    Die Journalisten verabschiedeten sich kühl, und ich schaute ihnen hinterher, wie sie zu ihrem schrecklich grünen Auto gingen, das ebenso in Licht gehüllt war wie die Schneehäufchen unter meinen Goofy-Hausschuhen. Wenn es schon März ist, wieso liegt dann noch Schnee, von Journalisten ganz zu schweigen? Wahrscheinlich waren das bloß irgendwelche Verrückte, die aus dem Irrenhaus ausgebrochen waren. Man muss wirklich aufpassen, wen man ins Haus lässt, die könnten dir irgendwas weismachen oder dich zum Waisen machen.
    Vollwaisen haben einen Vorteil. Sie bekommen das ganze Mitleid der Menschen und lassen für die Halbwaisen nichts übrig. Halbwaisen, was für ein schöner Begriff, denn nicht einmal das habe ich: ein Wort, das mich beschreiben könnte. Für mich gibt es höchstens noch die Umschreibung »vaterlos« – Mannomann, die haben das Mitleid der ganzen Welt, und ich habe bloß eine Umschreibung. Die kriegen eine neue Familie, und ich behalte die alte, bloß durch zwei geteilt und durchgeknallt. Über die werden Milliarden Filme gedreht, ach, wie schrecklich gern sehen die Leute die zitternden Händchen von Oliver Twist, der um einen Nachschlag Suppe bettelt, aber niemand würde sehen wollen, wie ich meine Mutter füttere oder wie sie den Inhalt des Tellers auf den Boden kippt, und dann höre ich noch ein letztes Rülpsen, so wie ich früher den letzten klaren Ton von Casta Diva gehört habe.
    Früher spielte sie immer ganz oben auf der Treppe, weil dort die Akustik so gut war, und ich schaute ihr von unten zu, wenn sie am Schluss die Flöte schüttelte, damit auch die letzten Tröpfchen Speichel herauskamen. Dann legte sie die drei Teile des Instruments in dieses schwarze, längliche Futteral zurück, das mir mittlerweile wie ein Sarg vorkommt.
    Sie lächelte mich an und kam auf mich zu, und wie schön sie war, selbst unser Haus war Sklave ihrer Schönheit und gezwungen, an ihr teilzunehmen. Der Staub versteckte sich unter den Möbeln, das Licht verschönte die feuchten Flecken an der Decke, die Schatten legten sich wie schützend über das Loch im Tisch, und der Fernseher erweckte zwei weitere Kanäle aus ihrer Trägheit, die man zuvor nie empfangen hatte.
    Auf BBC 1 wurde ein Bericht über besonders kluge Delphine gezeigt, die die Befehle ihrer Trainerin, eines schönen Mädchens mit blauen Haaren, befolgten. Sie sprangen in die Luft, tanzten und drehten Pirouetten, und einer schrieb sogar am Computer Aufsätze über Schopenhauer.
    Natürlich wusste sie, dass ihr Mann sie betrog. Natürlich war sie unglücklich. Natürlich weinte sie nachts, bis sie endlich hörte, wie er den Schlüssel im Schloss drehte, und tat dann aus Stolz so, als würde sie schlafen. Doch wenn er ins Zimmer kam und sie geschwollene Augen und vom vielen Schluchzen ein verzerrtes Gesicht hatte, dann blieb er auf der Schwelle stehen und betrachtete sie wie ein Bild. Selbst damals, als sie so traurig war und mit zerknautschter Wange »Hallo« sagte, war sie wunderschön, und wofür brauchte man dann das Glück?
    Nein, ich habe nie versucht, sie zu trösten, sie aus diesem Unglück zu befreien, und wenn sie auf dem Bett saß und zu mir sagte: »Camelia, ich weiß, dass er eine andere hat«, die Hände mit den langen Fingern vors Gesicht geschlagen, dann schaute ich sie nur an, ich versenkte mich in ihren Anblick, blieb aber an der Tür stehen, so felsenfest wie die Tür selbst. Vernichtet von dieser ganzen Schönheit, die zu trösten ich nicht das geringste Recht hatte.
    »Ich weiß es, und ich weiß auch, wer es ist. Es ist die, die über Musik schreibt, mit den roten Haaren, Liz Turpey. Hörst du mir überhaupt zu, Camelia? Liebes, hörst du mir zu? Was soll ich bloß machen?«
    Die dunkelblaue Decke, die die Form ihrer Beine und ihres Beckens nachzeichnete und ihr bis über die Brust reichte. Der Reispapierschirm der Lampe, die wir im Chinesenviertel von London gekauft hatten und die ihr Licht über die Wangen von Livia Mega ergoss und versuchte, ihre Farbe nachzuahmen, was ihr aber überhaupt nicht gelang, ebenso wenig wie der Decke. Alles gescheiterte Versuche.
    »Camelia, warum antwortest du mir nicht?«
    Nach Casta Diva stieg sie immer wie ein Star zu mir die Treppe herab, streichelte mir über den unverschämt schwarzen Haarschopf und fragte: »Hat es dir gefallen, mein Schatz?«
    »Ja, vor allem der
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