Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
Vom Netzwerk:
gebaut, drei superschmale Stockwerke wie traurige Türme von Babel, durch die man dem Teufel näher kommen will. Heutzutage befindet sich im Fabrikgebäude eine Grundschule, die bei jedem Läuten der Schulglocke ihre Kleinverbrecher auf die Straße spuckt.
    Die Kirche hingegen war immer schon eine, hoch und dunkel, der gotische Kopf, der über die steinernen Schäflein des Friedhofs wacht. Aber dorthin gehe bloß ich, weil es ein stillgelegter Friedhof ist und die Verstorbenen längst in Vergessenheit geraten sind. Ich gehe hin, um auszukundschaften, was für Albträume die Toten haben, und um den Blumen, die versehentlich aus der Erde kommen, die Köpfe abzuschlagen, weil schließlich niemand sie eingepflanzt hat, um die Toten zu ehren und an sie zu erinnern. Ja, es ist sogar verboten, sich zu erinnern, und die Brombeersträucher strecken ihre Zweige nach den Grabsteinen aus, damit man die Namen nicht mehr lesen kann.
    Manchmal jedoch stolpere ich trotzdem über Blumen, während ich mir einen Weg durch das Unkraut, die Beerensträucher und die schlafenden Schlangen bahne. Da zum Beispiel, ein Fleckchen unschuldiges Himmelblau in den Hexenkrallen des Gestrüpps, ein Aufblitzen von Schönheit inmitten dieser Zentrifuge aus Elend und Tod, nur um mich zu provozieren, und zack! , köpfe ich die Blume ohne Erbarmen, wie die böse Fee, die niemand zum Fest ihrer Kolleginnen eingeladen hat.
    Und dann gehe ich nach Hause.
    Man könnte meinen, die Christopher Road sei nun wirklich der letzte Ort, an dem man einen Roman spielen lassen könnte, erst recht deine eigene Lebensgeschichte, aber wenn ich sie mir jetzt genauer anschaue, dann blickt mir tatsächlich mein eigenes Gesicht aus der Seite hervor, wie aus einem Klassenfoto.
    Ich bin die mit der großen Nase und den langen schwarzen Haaren, die mit der Schneewittchenhaut, nein, weiter rechts, ich meine die mit dem Pony und den grünen Augen, habt ihr mich jetzt endlich entdeckt? Die, die gerade in den Müllcontainer linst, ja, genau die. Aber nix da von wegen Lebensgeschichte, weil mein Leben gar keine Geschichte hat, die man erzählen könnte, jedenfalls keine gescheite Geschichte, höchstens eine gescheiterte. Wo andere eine Geschichte haben, hat mein Leben tiefe Krater voller Sand, wie die auf dem Mond, von denen man als Kind noch gedacht hat, es sind die Augen, die Nase und der Mund vom Mann im Mond.
    Stellt euren Zoom ein, und dann kommt langsam näher und seht euch die Dunkelhaarige mit dem Pony an, die die knallrosa Jacke wegschmeißt. Der Schnee hatte die Müllsäcke in anmutige Schneemänner verwandelt. In dem Moment, als ich meine schwarze Einkaufstüte in der Tonne verschwinden lassen wollte, fiel mein Blick auf ein Kleid. Es war fichtennadelgrün, mit weißen Knöpfen, war zerknittert und schaute unten aus einer Plastiktüte von Sainsbury heraus. Es streckte einen langen Ärmel aus, der wie eine Schlange auf dem Hocker aus gelbem Plastik rechts hing. Links hingegen hatte es gar keinen Ärmel.
    Ich dachte an den Nachmittag zurück, der dermaßen anders war als die Gegenwart, dass das Denken mehr ein Ausdenken war als ein Zurückdenken, den Nachmittag, an dem meine Mutter das Etikett des schwarzen Strasspullovers musterte; damals kaufte sie noch Klamotten. Wir waren im White-Rose-Einkaufszentrum, und ich erzählte ihr gerade ganz aufgeregt von meiner allerersten Chinesischstunde.
    »Und dann die Betonungen! Ist das nicht absurd – je nachdem, wie man zum Beispiel das Wort ma betont, kann es ›Mutter‹ oder ›schimpfen‹ oder ›Pferd‹ oder ›Hanf‹ bedeuten!«
    »Lies mir doch mal das Etikett vor, das ist furchtbar klein geschrieben.«
    Und ich schaue angestrengt auf die winzige Hieroglyphe auf dem Etikett, eine kleine Schüssel mit einer Hand drin, und sage: »Handwäsche.«
    »Nein, ich meine das Material.«
    »Hundert Prozent Angora.«
    »Gut. Den probier ich an.«
    »Und den hier nicht?«
    Sie nahm den weißen Rollkragenpullover und legte ihn zurück: »Aber nein, mein Schatz, der ist siebzig Prozent Acryl.«
    Ich fischte das grüne Kleid aus der Mülltonne. Es war lang, aus Leinen und so unförmig wie ein Müllsack. Es hatte einen Stehkragen, die obersten drei Knöpfe waren schief und mit einem anderen Faden angenäht, und der Kragen war deutlich zu eng. Ich schob es in meine Tasche. Dabei bemerkte ich ein weiteres Kleid, das sich unter dem anderen versteckt hatte. Es war rot, aus grobmaschiger Wolle, und hatte ebenfalls nur einen überdimensional
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher