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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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aufgeknöpft. Schließlich kommt in diesen schmalen Straßen fast nie einer vorbei, die Häuser sind hinter viel Grün versteckt und sehen so einsam und verlassen und unglücklich aus, dass sie richtig schön sind.
    Die Arbeit von Liz (ja, ich weiß, jetzt habe ich sie so oft beim Namen genannt, dass ihr sie liebgewonnen habt und ihr Blumen ans Grab bringen könnt) bestand darin, zu schreiben, dass die CD X und die CD Y Meisterwerke der neuen Avantgarde seien, oder zumindest glaubte sie, ihre Arbeit bestehe darin, hauptsächlich viel Werbung zu machen, auch wenn niemand sie darum gebeten hatte, alles über den grünen Klee zu loben. Mein Vater hingegen arbeitete in der Nachrichtenabteilung und hatte einen Schreibtisch für sich allein, auf dem ein Foto von mir mit sieben Jahren in einem silbernen Rahmen stand. Auf dem Bild stehe ich am Strand von Scarborough, es war unser erster Ausflug in England, und mein Gesicht sieht mager und glücklich aus. Das magere Gesicht habe ich von meiner Oma, das Glück hingegen hatte ich gerade aus dem Sand gebuddelt. Wie eine Karotte hatte ich es aus dem Sand gerissen, mitsamt der Wurzel, weil ich doch so gerne Löcher machte. Und tatsächlich stecken auf dem Foto meine Hände bis zum Ellbogen im Sand, und auch an den Beinen klebt welcher.
    Am zwölften Dezember 2004 waren die beiden auf die Grosvenor Road abgebogen, ein Sträßchen, auf dem es so ruhig ist, dass du denkst, du bist in einem englischen Cottage aus dem dritten Jahrtausend vor Christus aus dem Nationalmuseum und willst dich gerade darüber beschweren, dass es viel zu künstlich ist, weil es damals doch auch Menschen und Hunde und einfach ein bisschen Leben gab, aber da täuschst du dich.
    Auf der Grosvenor Road geht es einem gegen den Strich, zu reden, weil dir die Worte ganz schief über die Lippen kommen, mit zu vielen Vokalen oder zu vielen Konsonanten. Sie dröhnen und hallen in der Luft wider, weil sie ein furchtbares Gewicht haben, und dabei verbreiten sie Bedeutungen, die sie gar nicht haben und auch nicht verdienen. Wenn du dort zum Beispiel sagst: »Ich bin froh«, dann wird daraus »Ich bin froh, mit dir zusammen zu sein«, und Liz Turpey hat meinen Vater angelächelt und irgendetwas zu ihm gesagt, und dann wird dieses Etwas zu »Nimm mich« geworden sein, weil die Worte in der Grosvenor Road immer ein paar Schichten Bedeutung übereinander tragen, wie Klamotten. In der Grosvenor Road dienen die schmiedeeisernen, kobaltblauen Gartenzäune mit Herzchen und die schimmernden Rasenflächen nur dazu, den Tod, der danach kommt, noch brutaler zu machen.
    Mein Vater wird Dinge gesagt haben, die er noch nie gesagt hatte, jungfräuliche Worte, die außerhalb der Grosvenor Road keinen Sinn ergaben, auch weil außerhalb dieser kleinen Straße meine Mutter war, die den ganzen Tag Flöte spielte, und sie, wenn er abends nach Hause kam, nicht mehr viel miteinander redeten.
    Jedenfalls hat er sie gesagt, und sie hat sie auch gesagt, diese Dinge, und dann haben sie sie in die Tat umgesetzt. Und dann hat er den Motor wieder angemacht.
    »Vorsicht, da ist ein Graben!«
    Ich weiß nicht, ob sie das gesagt hat.
    Ich weiß nicht, ob er, als er das gehört hat, plötzlich nicht mehr an ihre Brustwarzen dachte, und an den Speichel, der immer noch auf diesen großen Pupillen aus braunem Fleisch glitzerte (jetzt stelle ich mir schon wieder alles vor) und ob er, noch kurz bevor er gemerkt hat, wie das Auto abrutschte, einen Moment lang diese große Vagina aus dreckiger Erde vor sich sah, die den Wagen mit einem Schmatzen verschlang.
    Ich war nicht dabei. Aber sehe es vor mir, wie sie die Toten und das Blut im Graben gefunden haben.
    Seinen Tod brachte die Zeitung direkt auf der Seite, die er betreut hatte, bloß dass sein Name, der sonst nur klitzeklein unter dem Text gestanden hatte, jetzt riesengroß auf der Seite prangte. Wie seltsam, dass dein Name ausgerechnet dann so aufquillt, wenn du aufhörst zu leben, wie das Fleisch einer Wasserleiche. Wie seltsam auch sein rundes Gesicht, das einem da neben dem Wort dead entgegenlächelte. Und das nicht deshalb, weil man hier statt »Papa« dad sagt.
    Den Graben hat man hinterher mit Zement zugeschüttet. Bloß meine Mutter ist dort dringeblieben, aber das weiß nur ich. Manchmal nimmt sich die Natur einfach Sachen, die ihr nicht gehören, das habe ich an dem Tag entdeckt, als ich sieben Jahre alt war und am Strand von Scarborough Löcher in den Sand gebuddelt habe. Mitten im Sand lag dort
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