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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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Schiffbruch erlitten. Und auch die Sonne, die Ärmste, war kaum mehr als ein erschöpftes Etwas, eingeklemmt zwischen blattlosen Bäumen.
    Leeds ist wie eines dieser Herrchen, die gemeinerweise ihrem Hund mit einem Stück Fleisch vor der Nase herumwedeln und es dann selber essen – wenn du aus dem Haus gehst und diese Sonne am Himmel hängen siehst, fühlst du dich gleich glücklicher. Du denkst: »Vielleicht hört es endlich auf zu schneien«, du schließt die Augen, um zu spüren, wie sie warm werden, aber die Sonne ist schon längst wieder weg, und zurückgeblieben ist nur der trübe Himmel, weiß und runzlig wie ein Hühnerbein.
    In Leeds liebt man Vogelscheuchen, so wie alle Dinge, die sich für etwas anderes ausgeben, und wenn du auf sie reinfällst, lacht die Stadt über dich, vor allem, wenn du eine Italienerin bist, die die Sonne im Blut hat. Leeds lacht schamlos, und jede Lachsalve ist wie Donner. Selbst der Hyde Park heißt in Wirklichkeit Woodhouse Moor: Die Leute nennen den Park bloß so, damit du glaubst, du würdest gerade auf den viel breiteren und schöneren Wegen des Hyde Parks in London herumspazieren.
    Aber ich falle nicht drauf rein. Ich habe begriffen, mit welchen Tricks die Vogelscheuchen arbeiten. Wie könnte ich denn glauben, dass diese weißen Ungeheuer, die mich umgeben, in Wirklichkeit Häuser und Postämter und Bäume und Autos sind, die Tarnanzüge aus Schnee tragen, und nicht die sechsköpfigen Wächter meines Höllenkreises? Wie könnte ich glauben, dass diese bleiche und ausgemergelte Sonne wirklich eine Sonne ist und nicht bloß das Hirngespinst eines Todkranken im St. James Hospital, der mit Morphium vollgepumpt ist? Wie könnte ich glauben, dass die Engländer großzügige Menschen sind, bloß weil sie ständig lächeln?
    Klar habe ich begriffen, dass die Engländer und die Sonne und die verschneiten Autos und die Briefträger und die Hunde und die Stunden und Minuten und mein ausgezehrtes Gesicht im Spiegel nichts anderes sind als vorübergehende Verkörperungen des Todes. Und eben weil ich es kapiert habe, kannst du jetzt auch mit dem Grinsen aufhören, sagte ich zu dem glatzköpfigen Briefträger, der mir hinterherlief.
    Es sei wieder ein Brief von der Waschmaschinenfirma Gagliardi für mich da, sagte er.
    Ich steckte den Brief in die Tasche.
    Ich ging durch den Park, den Schirm vor mir ausgestreckt wie einen Schutzschild, wobei ich darauf achtete, ihn immer im rechten Winkel zu meinem Körper zu halten, denn wenn man ihn nur ein bisschen zu senkrecht hielt, drehte ihn der Wind um. Ich schloss die Finger fest um den Griff, aber dabei wurden trotzdem meine Haare und der Mantel nass, so ein Mist.
    Ich bog in Richtung Hyde Park ab, der Himmel ging ohne Unterschied in die Wiesen über, Weiß auf Weiß, eine Weltverschwörung aus lauter Weiß, die nur von den schwarzen Blitzen der Raben verraten wurde, die ab und zu über das Gras schwebten und landeten. Blieben sie jedoch länger als ein paar Sekunden sitzen, riskierten auch sie, unter einer Schneelawine begraben zu werden, die auf einem Baum auf der Lauer lag.
    Einer der Raben schüttelte sich voller Angst vor der plötzlichen weißen Last, wie ein Dämon, der hinterrücks vom Heiligen Geist besprengt wird, der Ärmste. Ich folgte ihm ein paar Minuten, bis er die Flügel ausbreitete und davonflog. Rettung gab es für nichts und niemanden.
    Ich ging an den Dönerverkäufern und den Secondhand-Boutiquen vorbei, am Parkinson Building, den Supermärkten, und dann war ich endlich im Zentrum.
    Die Briggate war aufgedonnert und bunt, der Schnee war ihr schnurzegal, und auch die Leute, die unterwegs waren, scherten sich um nichts, sondern ergossen sich in die Filialen von Starbucks und Borders, von McDonald’s und von HMV , oder sie spähten hinter den Fenstern der pseudoitalienischen Bars hervor, wo man in Kunstledersesseln saß und wässrigen Pseudoespresso schlürfte.
    Natürlich wimmelte es auch in den Klamottenläden von Leuten, die sich nach Arten unterscheiden ließen wie die Tiere im Zoo. Wer sich besonders lässig fühlte, ging zu H & M, der Trendige entschied sich für Top Shop, die Schicken besuchten Zara, derjenige, für den es am wichtigsten ist, dass es wenig kostet, ging zu Primark; Hauptsache, auf den Klamotten war jede Menge Glitzer und Glimmer, so wie wenn man seinem Hund ein paar Tropfen Öl auf die trockene Brotrinde gibt.
    Ich bahnte mir zwischen den kaufwütigen Bestien meinen Weg. Dabei umschiffte ich die
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