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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma
Autoren: Tom Rob Smith
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Sowjetunion
    Moskau

    3. Juni 1949

    Im Großen Vaterländischen Krieg hatte er zur Verteidigung von Stalingrad die Brücke von Kaiatsch gesprengt. Fabriken hatte er mit Dynamit präpariert und danach in Schutt und Asche gelegt und Raffinerien, die nicht mehr zu verteidigen waren, in Brand gesetzt, bis überall am Horizont Säulen brennenden Öls gelodert hatten. Alles, was die einfallende Wehrmacht vielleicht requirieren konnte, hatte er in aller Eile zerstört. Mochten seine Landsleute auch Tränen vergießen, wenn ihre Heimatstädte in sich zusammenfielen, ihn hatte der Anblick der Zerstörung mit grimmiger Genugtuung erfüllt. Der Feind würde ein verwüstetes Land erobern, verbrannte Erde und einen rauchenden Himmel. Oft hatte er mit dem improvisieren müssen, was gerade zur Hand war, mit Panzergranaten oder Glasflaschen, das Benzin hatte er sich aus liegen gebliebenen Militärlastwagen abgesaugt. Er hatte sich beim Staat den Ruf eines Mannes erarbeitet, auf den Verlass war. Nie hatte er die Nerven verloren und nie einen Fehler gemacht, auch dann nicht, wenn er unter extremen Bedingungen operierte, in eiskalten Winternächten, bis zur Hüfte in reißenden Flüssen oder unter Feindbeschuss. Für einen Mann mit seiner Erfahrung und seinem Temperament war die heutige Aufgabe eigentlich eine Routineangelegenheit. Er musste sich nicht beeilen, und ihm pfiffen auch keine Kugeln um die Ohren. Dennoch zitterten seine Hände, die doch eigentlich als die ruhigsten in seiner gesamten Zunft galten. Schweißtropfen rannen ihm in die Augen und zwangen ihn, sie mit einem Hemdzipfel abzutupfen. Ihm war schlecht wie einem Anfänger. Denn es war das erste Mal, dass der fünfzigjährige Kriegsheld Jekabs Duwakin eine Kirche in die Luft jagen sollte.
    Eine Sprengladung musste noch angebracht werden, direkt vor ihm im Altarraum. Den Altar selbst hatte man ebenso fortgeschafft wie die Ikonostase, die heiligen Ikonen und die Kerzenleuchter. Bis auf das Dynamit, das er in die Fundamente gegraben und an den tragenden Säulen befestigt hatte, war die Kirche leer, entweiht und vollkommen geplündert. Sogar das Blattgold hatte man von den Wänden gekratzt. Nichts war mehr übrig außer dem riesigen, Ehrfurcht gebietenden Raum selbst, dessen Hauptkuppel mit ihrer Krone aus Buntglasfenstern ganz oben so sehr vom Tageslicht erfüllt war, dass sie ihm erschien wie ein Teil des Himmels selbst. Jekabs legte den Kopf in den Nacken und bewunderte mit offenem Mund die Spitze der Kuppel etwa fünfzig Meter über ihm. Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Fenster und strahlten Fresken an, die schon bald in die Luft fliegen sollten, eine Million Farbtupfer, zerstäubt in alle Einzelteile. Als wolle es nach ihm greifen, breitete sich das Licht über den glatten Steinboden bis fast zu ihm hin aus, eine ausgestreckte, goldene Hand.
    »Es gibt keinen Gott«, murmelte er.
    Er wiederholte die Worte, diesmal lauter, das Echo hallte von den Wänden der Kuppel wider: »Es gibt keinen Gott!«
    Schließlich war ein Sommertag, logisch, dass es da hell war. Das war kein Zeichen. Kein göttliches Zeichen. Das Licht hatte nichts zu bedeuten. Er grübelte zu viel, das war das Problem. Dabei glaubte er gar nicht an Gott. Er versuchte sich die vielen antireligiösen Maximen ins Gedächtnis zu rufen, die der Staat ausgab.

    DIE RELIGION GEHÖRTE EINEM ZEITALTER AN, IN DEM JEDER FÜR SICH SELBST WAR. UND GOTT WAR FÜR ALLE.

    Dieses Gebäude war nicht heilig oder gesegnet. Er musste es sehen als das, was es war, nämlich Stein, Glas und Holzbalken, eine hundert Meter lange und sechzig Meter breite Kirche, die nichts produzierte und keine nachvollziehbare Funktion hatte. Ein archaisches Bauwerk, von einer Gesellschaft, die es nicht mehr gab, aus archaischen Beweggründen errichtet.
    Jekabs lehnte sich zurück und strich mit der Hand über den kühlen Steinboden, den die Füße Hunderter, Tausender von Kirchgängern jahrhundertelang blank gescheuert hatten. Überwältigt vom Ausmaß dessen, was er im Begriff war zu tun, kämpfte er gegen das Gefühl an, so als ob ihm etwas im Halse stecken geblieben sei. Doch das ging vorbei. Er war müde und überarbeitet, mehr nicht.
    Normalerweise wurde er bei einer Sprengung wie dieser von einer ganzen Mannschaft unterstützt. In diesem Fall hatte er sich jedoch dafür entschieden, seine Männer nur am Rande zu beteiligen. Wozu die Kollegen unnötig in etwas hineinziehen? Keiner von ihnen dachte so klar wie er. Nicht alle hatten
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