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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön
Autoren: Judith Winter
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seiner Fertigstellung aussehen sollte. Und tatsächlich war das Monstrum aus Stahl und Beton, das sich ein paar hundert Meter ostwärts in den schneeschweren Himmel reckte, nicht mehr weit von dieser Darstellung entfernt. In das Atrium, das den 185 Meter hohen Nord- mit dem rund zwanzig Meter niedrigeren Südturm verband, hatte man bereits Scheiben eingesetzt. Und auch an den Fassaden der beiden Türme kletterte das Glas unaufhaltsam in die Höhe.
    Em kniff die Augen zusammen und stutzte, als sie ein Stück vor sich auf einmal eine Gestalt entdeckte. Ein flüchtiger Schatten, der sich eilig entfernte.
    Ich hatte recht!, durchfuhr es sie. Er ist tatsächlich nicht mehr im Konservatorium! Er ist auf der Baustelle!
    Ohne Zögern erklomm sie den stabilen Bauzaun und landete mit einem satten Schmatzen im Schneematsch auf der anderen Seite. Und noch immer konnte sie Norén sehen. Er rannte. Von Zeit zu Zeit blickte er über seine Schulter. Aber bei dem Tempo, das er vorlegte, konnte er eigentlich nicht viel erkennen.
    Was hat er vor?, überlegte Em. Hinter ihr erklang Sirenengeheul, das rasch näher kam. Eine Sache von Minuten, dann würde es hier von Polizisten nur so wimmeln.
    Norén wusste das.
    Wollte er deshalb zur Baustelle? Versprach er sich auf dem unübersichtlichen Gelände eine Möglichkeit zum Untertauchen?
    Em dachte an die Container, die man für die zahllosen Arbeiter aufgestellt hatte. Ganze Städte aus Baucontainern, rot, orange, gelb. Teilweise vier Etagen übereinander.
    Sie sah sich nach potenziellen Helfern um, doch das Gelände war im unwirklichen Flockengetümmel wie ausgestorben. Trotzdem war es taghell erleuchtet. Etwas, das ihre Position nicht gerade verbesserte.
    Ihre Augen streiften die Schmalseite des Südturms, und ihr fiel auf, dass einer der Bauaufzüge lautlos nach oben glitt.
    Konnte es tatsächlich sein, dass Norén wagte …
    Aber warum? Das wäre eine Sackgasse, oder nicht? Genau wie das Konservatorium.
    Das ist nicht gesagt, widersprach Em sich selbst. Sieh dich doch nur mal um! Selbst mit hundert Mann Verstärkung könntest du unmöglich jeden Winkel dieses Monsters im Auge behalten.
    Vielleicht verschafft er sich erst mal einen Überblick.
    Vielleicht wartet er dort oben auf eine gute Gelegenheit zur Flucht.
    Nein! Er spielt mit dir. Du weißt es …
    Sie tastete nach ihrem Handy, doch es war nicht da. Vielleicht war es ihr beim Laufen aus der Tasche gerutscht. Oder beim Überwinden des Bauzauns.
    »Gottverdammte Scheiße«, fluchte sie. Aber nicht zu ändern.
    Sie schaute ein letztes Mal nach dem Lift, der bis etwa auf halbe Höhe nach oben gefahren war. Dann trat sie in den Schatten des Gebäudes und sah sich nach einer Treppe um. Dreiundvierzig Stockwerke, rechnete sie. Da war die Hälfte einundzwanzig. Ein langer Weg, wenn man zu Fuß gehen musste.
    Sie atmete tief durch und machte sich an den Aufstieg. Je weiter sie nach oben kam, desto unangenehmer wurde der Wind. Er pfiff durch die leeren Fensterhöhlen, und fast schien es, als summe er auf diesem überdimensionalen Instrument aus Stahl und Beton ein schaurig-schönes Lied.
    Em presste sich die Hand in die Flanke, wo es bestialisch stach.
    Du bist unfit. Du solltest wieder öfter trainieren.
    Wenn sie richtig mitgezählt hatte, war sie jetzt im neunzehnten Stock. Noch zwei Etagen also. Zweimal zweiundzwanzig Stufen.
    Und dann?
    Sie verlangsamte ihre Schritte und lauschte. Doch das Toben des Windes ließ ihr keine Chance. Alles, was sie hörte, war einRauschen wie auf hoher See. Also musste sie sich allein auf ihre Augen verlassen. Auf ihre Instinkte. Sie verließ das Gerippe des Treppenhauses, nahm ihre Waffe in den Anschlag und schob den Kopf um die Ecke des nächsten Vorsprungs. Dahinter befand sich ein Flur. Em sah Türöffnungen. Neue Ecken. Winkel. Alles in allem verdammt unübersichtlich.
    An der Schmalseite entdeckte sie den Aufzug. Der Bügel, der die Kabine während der Fahrt verschloss, stand offen.
    Er ist tatsächlich hier!
    Ihr Herz schlug Purzelbäume. Zugleich fühlte sie, wie das Adrenalin ihre Wahrnehmung veränderte. Ihr Kopf wurde kühl und klar. Der Schweiß auf ihrer Stirn zog sich zurück. Alle Muskeln waren zum Zerreißen gespannt.
    Vorsichtig tastete sie sich weiter. Ein Türstock. Dahinter ein neuer Raum. Weitläufig. Leer. Zwischen den rohen Betonmauern hingen dicke Plastikplanen, an denen der Wind riss. Und unwillkürlich musste Em an ein Schlachthaus denken. An einen Kühlraum, in dem steifgefrorene
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