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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön
Autoren: Judith Winter
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Oder riechst du den Braten? Wie gut sind deine Instinkte? Warnen sie dich vor uns, lenken sie deine Schritte rechtzeitig in eine andere Richtung? Oder kannst du nicht widerstehen, dich noch einmal dem Sohn jenes Mannes zu nähern, den du so sehr hasst, dass du seinetwegen bereits sechs Morde begangen hast? In welcher Maske trittst du uns als Nächstes entgegen?
    Und die wichtigste Frage von allen: Werden wir dich überhaupt erkennen?
    Sie musste an einen Eintrag in Westens Buch denken.
    Ich habe mit vielen Straftätern zu tun gehabt. Mit Mördern. Mit Vergewaltigern und Kinderschändern. Und ganz egal, wie alt sie sind, spätestens wenn sie mir gegenübersitzen, lassen sie eine gewisse Anspannung erkennen. Manche testen systematisch aus, wie weit sie gehen können. Andere haben einen Instinkt, der ihnen verrät, dass sie vorsichtig sein müssen mit mir. Deshalb sind sie nett. Halten mir die Tür auf. Sagen artig: »Guten Morgen«, wenn sie mein Zimmer betreten.
    Doch Milan ist anders.
    Er hat keine Angst vor mir. Und er hat auch keine Angst, sich zu verraten. Vielleicht weil da nichts ist, das er verraten könnte …
    Unruhig kramte Em ihr Handy aus der Tasche und drückte Gehlings Kurzwahl. »Was ist mit dem Foto?«, fragte sie, als er sich gemeldet hatte.
    »Die Kollegen sind dran.«
    »Das reicht mir nicht«, fauchte sie. »Wir müssen wissen, nach wem wir uns umsehen sollen. Sonst hat das hier alles keinen Sinn.«
    »Ich weiß. Aber Norén ist nicht dumm«, verteidigte sich Gehling. »Er verwischt seine Spuren. Das Foto von seiner Immatrikulation ist verschwunden. Die Sekretärin kann sich das nicht erklären. Aber wir stehen in Kontakt zu Noréns Doktorvater. Der lädt seine Examenskandidaten und Doktoranden immer einmal im Jahr zu sich nach Hause ein. Zum Grillen. Er schaut gerade nach, ob er ein Foto findet, auf dem auch Marius drauf ist.«
    »Das dauert alles viel zu lange«, stöhnte Em, während der Protest um sie herum aufs Neue aufflammte. Zwar war das Spiel mittlerweile wieder angepfiffen. Doch die Stimmung war so angespannt, dass ein Funke genügt hätte, die aufgeheizten Gemüter zur Explosion zu bringen. Die Luft flirrte nur so vor Emotionen.
    Er ist hier, dachte Em. Ich kann ihn fühlen. Seine Nähe …
    Das Wort erschreckte sie, kaum dass ihre Gedanken es formuliert hatten. Nähe! Wie entsetzlich schutzlos das klang! Sie richtete sich auf. Es ist eine Falle. Und wir stolpern geradewegs hinein! Ihre Augen flogen über die Tribünen. Streiften Gesichter. Lachende. Ernste. Wütende. Mädchen, die sich unterhielten. Zwei Jungen, die einander im Scherz in den Schwitzkasten nahmen. Lehrer. Gelangweilt.
    Am rechten Spielfeldrand, gleich hinter dem Richtertisch, humpelte noch immer das Mädchen in Weiß auf und ab.
    Em sah einen der Sanitäter auf sie zugehen. Ein schlanker Mann in schwarzer Kleidung. Er trug eine orangefarbene Warnweste und hielt einen Koffer in der Hand. Und auf einmal wusste sie es: Das ist er!
    Ihre Hand bekam Zhous Schulter zu fassen.
    Da drüben! Was meinen Sie? Norén!
    Zhous Kopf flog herum. Ihre Augen erfassten die Gestalt in Schwarz. Die Schirmmütze. Das wenige, was darunter an Gesichtszügen zu erkennen war. Und keine zehn Meter entfernt saß Marlon Westen und stoppte die nächste Spielunterbrechung …
    Sind Sie sicher?
    Em nickte. Ja, ganz sicher.
    Und jetzt?
    »Nicht hier«, entschied Em. »Nicht mit all diesen Kindern um uns.«
    Sie reckte den Hals und sah nach ihren Kollegen, die weitaus näher am Geschehen saßen als Zhou und sie. Und tatsächlich: Steven Bost schien instinktiv zu spüren, dass sie ihn erreichen wollte, und drehte den Kopf.
    Em gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass sie Sichtkontakt zu einem potenziellen Verdächtigen hatten. Doch sie kam nicht dazu, ihm die Richtung anzudeuten, denn im selben Moment blickte Marius Norén quer über das Spielfeld zu ihnen herüber.
    Einige atemlose Sekunden lang krallten sich ihre Blicke ineinander. Sie überwanden seltsam mühelos die Distanz, verkeilten sich und ließen alles andere, alle Geräusche und Ängste, den Lärm und die aufgestaute Hitze der Halle, in den Hintergrund treten.
    Dann hob Norén plötzlich die Hand.
    Zuerst dachte Em, dass er eine Waffe ziehen würde, doch er tat nichts dergleichen. Er tippte sich nur wie zum Gruß an den Rand seiner Mütze und winkte ihr lächelnd zu. Sekunden später trat er hinter das verletzte Mädchen.
    Die nächsten Bilder empfand Em als deutlich verlangsamt und
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