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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön
Autoren: Judith Winter
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sah Sander Westen in der Tür stehen. Er trug einen anthrazitfarbenen Mantel und hatte Schnee im Haar. »Dr. Westen«, begrüßte sie ihn verwundert. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Es geht um meinen Sohn«, kam der Psychologe umgehend zur Sache, und aus seiner Stimme sprach eine tiefe Sorge. »Ich wollte mit ihm reden, aber ich kann ihn nicht erreichen. Also habe ich es einfach mal bei seinem …« Er zögerte, aber nur kurz. »Bei seinem Freund versucht.«
    »Bei Jan Persson?«
    Westens Miene wurde steinern. »Er sagt, dass er meinen Sohn nicht kennt.«
    Em starrte ihn an. »Was?«
    »Ich wollte nicht gleich in Panik verfallen, und meine Exfrau weiß auch noch nicht Bescheid, aber ich …« Er unterbrach sich und hustete trocken. »Ich halte das nicht unbedingt für ein gutes Zeichen.«
    Ich auch nicht, dachte Em. »Wir klären das. Machen Sie sich keine Sorgen.«
    Seine Emotionen im Zaum zu halten kostete ihn viel. Das war offensichtlich. Trotzdem zwang er sich zu einem Lächeln. »Informieren Sie mich, sobald Sie mehr wissen?«
    »Selbstverständlich.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Vielleicht handelt es sich ja auch nur um ein Missverständnis.«
    Das glauben Sie doch selbst nicht, las sie in den blauen Augen. Aber danke für den Versuch …
    Westen wollte sich eben zum Gehen wenden, als sein Blick an der Tafel hinter Ems Schreibtisch hängen blieb, wo Decker Porträtfotos der Opfer neben Aufnahmen von den Tatorten gepinnt hatte. Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich, und Em sah Verwirrung.
    »Was ist?«, fragte sie alarmiert.
    »Der Mann da auf dem Foto …« Westens Hand wies auf eins der Porträts. »Wer ist das?«
    »Das?« Sie trat hinter ihn. »Jonas Tidorf. Wieso?«
    Die tiefblauen Augen brannten sich in ihr Gesicht. »Wer immer das sein mag«, flüsterte Westen, »es ist auf gar keinen Fall der Mann, der bei mir in der Praxis gewesen ist und mir von der ungeplanten Schwangerschaft seiner Freundin erzählt hat …«
    Em ließ ihn stehen und riss den Ausdruck mit den Abzählreimversen unter einem Stapel Kopien hervor. »So eine verdammte Scheiße«, schimpfte sie, während sie die ersten Zeilen überflog. »Dieser Mistkerl hat es uns ganz klar gesagt. Aber wir haben es nicht kapiert.«
    »Was denn?«, fragte Decker, der zugehört hatte.
    »Hier«, rief sie aufgeregt. »Zehn kleine Negerlein, die schlachteten ein Schwein. Eines stach sich selber tot …«
    »Ja und?«
    »Es stach sich selber tot «, wiederholte sie. »Das hat er wörtlich gemeint. Er hat Jonas Tidorfs Identität gestohlen und sich unter dessen Namen in diese Gesprächsgruppe eingeschlichen. Dort hat er Tidorfs Geschichte erzählt und auf diese Weise auch AloisBerneck kennengelernt. Und dann hat er Tidorf als Ersten getötet und sich damit sozusagen selbst wieder aus dem Rennen genommen.«
    Aus Westens Gesicht war alle Farbe gewichen, als er ihr den Ausdruck des Kinderliedes aus der Hand nahm. »Mordet er nach diesen Versen?«, fragte er tonlos.
    Sie nickte.
    »Das würde zu ihm passen.«
    »Sie meinen zu Marius?«
    »Ja. Sein gesamtes Weltbild unterlag dem Prinzip einer absoluten Ordnung. Es gab keinerlei Zwischentöne, keine Nuancen.« Seine Stimme wollte ihm kaum gehorchen. »Es ärgerte ihn, wenn das Mittagessen fünf Minuten später ausgegeben wurde. Es ärgerte ihn, dass der eine Zwilling sieben Minuten länger brauchte, um zu verbluten. Und er hasste alles, was er nicht vorhersehen konnte.«
    »Ist Ihnen das Lied von den ›Zehn kleinen Negerlein‹ in diesem Zusammenhang schon mal untergekommen?«, wagte Em einen Schuss ins Blaue.
    »Nein, aber Marius schrieb andauernd irgendwelche kryptischen Zahlenreihen.« Westen strich sich eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn, die noch immer feucht war vom Schnee. »Ich erinnere mich, dass ich ihn einmal fragte, was genau er da berechne. Und er erzählte mir von einem mathematischen Problem, das auf einem ähnlichen Prinzip beruht wie diese Abzählspielchen. Natürlich auf viel höherem Niveau.« Er dachte angestrengt nach. »Es hatte irgendwas mit einem Joseph zu tun …«
    Em machte Gehling ein Zeichen, und der junge Kollege begann zu tippen.
    »Dabei ging es vermutlich um die sogenannte Josephus-Permutation«, erklärte er wenig später. »Zurückgehend auf den jüdischen Historiker Flavius Josephus, der sich 67 nach Christus mit vierzig Gefolgsleuten in einer Höhle vor den Römern versteckte. Die Belagerer sicherten ihm freies Geleit zu, falls er sich kampflos ergibt. Doch
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