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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön
Autoren: Judith Winter
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noch niemals im Leben so wach gewesen zu sein wie in diesem Augenblick. Im Angesicht des Todes.
    »Knie dich hin«, befahl die Stimme.
    Ein leiser Wind bewegte die Kronen der Bäume, und Berneck spürte etwas Warmes auf seiner Wange. Tränen.
    Nach all diesen Jahren wirklich und wahrhaftig Tränen.
    »Es tut mir leid«, flüsterte er.
    Im selben Augenblick wurde sein Körper von einer Ladung Schrot zerfetzt. Ein paar Vögel flatterten erschreckt zwischen den kahlen Zweigen auf. Federn streiften dürre Äste. Die knappen Rufe heiser und nachtschwer.
    Dann war es wieder still.

EINS

    Es gibt zwei Arten guter Menschen:
    Die toten und die ungeborenen.
    Chinesisches Sprichwort

Donnerstag, 15. November
1
    Die wenigen Zuhörer, die sich an diesem trüben Donnerstagmorgen im Sitzungssaal des Frankfurter Landgerichts, Gebäude E, eingefunden hatten, verfolgten die Urteilsverkündung mit einer Mischung aus Misstrauen und resignierter Langeweile. Die Aufmerksamkeit, die dem Fall anfänglich zuteilgeworden war, hatte sich bereits nach wenigen Prozesstagen verflüchtigt, was in erster Linie an der Angeklagten selbst lag. Die pummelige junge Frau mit den stumpfen braunen Augen erfüllte so wenig das Klischee der männermordenden Schwarzen Witwe, dass die meisten Schaulustigen bereits nach der ersten Anhörung enttäuscht aufgegeben hatten. Und so war der Prozess gegen Sarah Jessica Kindle nach spektakulärem Beginn nicht viel anders verlaufen als Dutzende andere Prozesse dieser Art. Zeugen und Gutachter waren gehört worden, die Staatsanwaltschaft hatte ihre Beweise vorgelegt, und Sarah Kindles Anwalt hatte ein viel diskutiertes Plädoyer gehalten. Doch bahnbrechende neue Erkenntnisse hatten sich aus all dem nicht ergeben. Und fast schien es, als hätten selbst die unmittelbar Beteiligten – Richter, Schöffen und Anwälte – mit der Zeit das Interesse an dem Fall verloren.
    An dem Tag, an dem das hohe Gericht über ihre Zukunft entschied, trug Sarah Kindle einen rehfarbenen Pullover, und wie immer sprach sie langsam und auffallend leise, als sie dem Richter ein paar letzte, überwiegend formale Fragen beantwortete.
    Emilia Capelli betrachtete das teigige Gesicht der Angeklagten und dachte, dass Sarah Kindle den Gerichtssaal in wenigen Minuten als freie Frau verlassen würde. Gleichzeitig überlegte sie, ob ihr diese Aussicht ein gutes Gefühl gab.
    »Em«, wie Freunde und Kollegen Emilia scherzhaft nannten, war achtundzwanzig und hatte es trotz ihres jugendlichen Alters bereits zur Hauptkommissarin in der Abteilung für Kapitaldelikte der Zentralen Kriminaldirektion gebracht – ein Umstand, den sie in erster Linie ihrem unermüdlichen Fleiß und einem schier bodenlosen Ehrgeiz verdankte.
    Dass sie einen Strafprozess verfolgte, kam eher selten vor. Noch dazu, wenn es um jemanden ging, gegen den sie nicht selbst ermittelt hatte. Aber in diesem Fall war sie als Zeugin gehört worden, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund war ihre Aufmerksamkeit zumindest so sehr an der Sache hängen geblieben, dass sie ihren freien Vormittag opferte, um der Entscheidung des Gerichts vor Ort beizuwohnen.
    »Du hast sie ja nicht alle«, hatten ihre Kollegen gespottet, und im Stillen gab Em ihnen sogar recht. Doch hin und wieder tat man eben Dinge, die sich rational weder erklären noch begründen ließen.
    Ihre Augen suchten wieder die verwaschenen Züge der Angeklagten, die den Ausführungen des Richters mit unbewegter Miene lauschte.
    Dieser freilich ersparte Sarah Kindle weder den wiederholten Hinweis auf die zahlreichen Ungereimtheiten in dem Fall noch das offene Zurschautragen seiner persönlichen Antipathie. Er schloss mit den Worten: »Dennoch ergeht nach Anhörung sämtlicher Zeugen und vor dem Hintergrund der mehr als dürftigen Beweislage im Namen des Volkes folgendes Urteil …«
    Em spürte, wie angesichts dieser Ankündigung wieder Leben in den Gerichtssaal kam. Sie hörte das Quietschen von Füßen auf dem grauen Linoleum. Rascheln. Ein paar Meter hinter ihr räusperte sich jemand. Dann war der Raum von einem Moment auf den anderen von einer flirrenden Spannung erfüllt,und sämtliche Blicke richteten sich auf die Angeklagte, die noch immer vollkommen ausdruckslos auf die Tischkante vor sich hinuntersah.
    »Möchten Sie noch etwas sagen?«, fragte der Richter, nachdem er den erwarteten Freispruch verkündet hatte.
    Sarah Kindle sah ihn an und schüttelte wortlos den Kopf.
    Der Richter nickte ohne Freundlichkeit. »Dann erkläre
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