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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön
Autoren: Judith Winter
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Frau.«
    »Du klingst enttäuscht.«
    »Ich weiß nicht, ob enttäuscht das richtige Wort ist. Aber ich …« Sie unterbrach sich, weil in diesem Augenblick eine junge Kellnerin an ihren Tisch trat, um nach ihren Wünschen zu fragen.
    Tom orderte ein Steak mit Ofenkartoffeln und Salat, während Em sich ganz profan an Currywurst mit Pommes und Cola hielt. Während sie der Bedienung beim Eintippen der Bestellung zusah, versuchte sie, ihre Gefühle in Bezug auf den Prozess zu analysieren. Doch sie kam zu keinem brauchbaren Ergebnis. »Es wäre wirklich eine Riesenüberraschung gewesen, wenn die Sache anders ausgegangen wäre«, erklärte sie, als die Kellnerin wieder außer Hörweite war.
    »Mag sein.« Ihr alter Kumpel bedachte sie mit einem seiner langen prüfenden Blicke. »Aber du bist trotzdem nicht zufrieden.«
    Em lag Widerspruch auf der Zunge, doch sie verkniff ihn sich. Leider Gottes verfügte Tom entgegen ihrer Stichelei über ausgezeichnete Instinkte, und sie wusste aus langer, zuweilen auch schmerzvoller Erfahrung, dass sie ihm nichts vormachen konnte. »Stimmt«, gab sie zu. »Bin ich nicht.«
    »Das heißt, du hältst Sarah Kindle für schuldig?«
    »Ich weiß nicht.«
    Er zog eine seiner buschigen Brauen hoch.
    Em verdrehte entnervt die Augen. »Ach, keine Ahnung. Ich werde einfach nicht klug aus dieser Frau.«
    »Musst du auch nicht. Sie ist nicht dein Fall und war’s nie und wird’s vermutlich auch nie werden.«
    »Da hast du, verdammt noch mal, recht.« Ihre Finger spielten am Rand der Speisekarte. Genau genommen wusste sie selbst nicht, warum sie sich so fühlte, wie sie sich fühlte. Und doch wurde sie den Gedanken nicht los, etwas Entscheidendes übersehen, sich eines gravierenden Versäumnisses schuldig gemacht zu haben.
    Dabei hatte der Fall auf den ersten Blick mehr als eindeutig ausgesehen: Bei Eberhard Kindle, einem achtundsechzigjährigen Geschäftsmann aus Bergen-Enkheim, war Speiseröhrenkrebs diagnostiziert worden. Sein Hausarzt hatte ihm nur wenig Hoffnung gemacht, und Kindle hatte sich aus Angst vor langem Siechtum eine Kugel in den Kopf gejagt.
    In der Nacht, in der der Notruf einging, vertrat Em einen erkrankten Kollegen. Die Zentrale piepste sie an, sie fuhr zu Kindles Haus und befragte dessen Ehefrau, die die Leiche ihres Mannes bei ihrer Rückkehr von einem Kinobesuch entdeckt hatte. Sarah Kindle war natürlich verstört gewesen, und Em erinnerte sich auch daran, dass sie nervös und fahrig gewirkt hatte. Doch das war ihr angesichts der Umstände einigermaßen normal erschienen. Doch dann hatte sie von den ermittelnden Kollegen gehört, dass es Ungereimtheiten gab. Dass Eberhard Kindle unmittelbar vor seinem Selbstmord bei einem Spezialisten in Heidelberg gewesen war. Und dass dieser Kindles Heilungschancen grundlegend anders beurteilt hatte als dessen Hausarzt.
    Und genau das hatte er auch im Prozess ausgesagt. Er hatte seine günstige Prognose bekräftigt und eine Reihe von Befunden vorgelegt, die seine Ausführungen zweifelsfrei untermauerten. Es gab sogar einen ausgearbeiteten Therapieplan und eine von Kindle eigenhändig unterzeichnete Anmeldung zur Teilnahme an einer medizinischen Studie.
    Auf Nachfrage des Richters hatte Sarah Kindle erklärt, von diesen Plänen nichts gewusst zu haben. Und trotz der eindeutigen Expertise war sie stur dabei geblieben, dass ihr Mann sich in den Tagen vor seinem Tod immer mehr in sich selbst zurückgezogen habe.
    »Oh nein, ganz im Gegenteil«, hatte Lothar Borowski der Witwe seines besten Freundes daraufhin mit nur mühsam beherrschter Empörung entgegengeschleudert. »Eberhard hat mich noch am Abend vor seinem angeblichen Selbstmord angerufen. Er war allerbester Dinge. Er hatte einen Weg gefunden, das war für ihn immer das Wichtigste. Eine Perspektive zu haben. Er war ein Kämpfer.«
    Eine Einschätzung, die Em durchaus teilte. Kindle war vor seiner Ehe mit Sarah bereits zweimal verheiratet gewesen. Seine erste Frau war an Krebs gestorben. Mit ihr hatte er einen Sohn gehabt, der jedoch schon als Zwanzigjähriger bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war. Von der Mutter seinerbeiden erwachsenen Töchter hatte er sich scheiden lassen, nachdem sie ihn mit einem anderen Mann betrogen hatte. Kurzum: Was immer ihm das Leben an Knüppeln zwischen die Beine geworfen hatte – er hatte weitergemacht und gekämpft.
    Und Sarah?
    Em kratzte mit dem Daumen einen eingetrockneten Kaffeefleck vom Holz des Tisches. Die Fünfundzwanzigjährige war dem
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