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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön
Autoren: Judith Winter
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ich das Verfahren hiermit für geschlossen. Sie sind frei.«
    Die beiden Beisitzer rechts und links von ihm erhoben sich. Staatsanwalt und Verteidiger eilten geschäftig zum Richtertisch. Im Zuschauerraum brach Gemurmel los.
    Einzig Sarah Kindle stand nach wie vor unbewegt an ihrem Platz.
    »Ich glaube ihr kein Wort«, hörte Em eine Frauenstimme in ihrem Rücken, und obwohl Sarah Kindle zu weit entfernt stand, um die Bemerkung aufzuschnappen, wandte sie just in diesem Augenblick den Kopf und blickte herüber. Noch immer lag ein Ausdruck von Stumpfheit auf ihrem Gesicht, doch ein paar flüchtige Sekunden lang glaubte Em, in den Tiefen der braunen Augen ein leises Glimmen zu erkennen. Einen Anflug von Triumph.
    Sie sind frei …
    Der Eindruck verflog so schnell, wie er gekommen war. Zurück blieb das leere Gesicht einer jungen Frau, die soeben um satte viereinhalb Millionen Euro reicher geworden war.
    Nur Sekunden später trat Sarah Kindles Anwalt vor seine Klientin und verstellte Em die Sicht. Seufzend bückte sie sich nach ihrer Handtasche und verließ mit einem diffusen Gefühl von Besorgnis den Gerichtssaal.
    Von dem Mann, der nur wenige Meter entfernt auf der anderen Seite des Gangs saß, nahm sie keine Notiz. Er trug eine Perücke, aber das fiel niemandem auf. Ebenso wenig wie das schmale Notizheft, dessen Ecke aus der Brusttasche seines Jacketts herausragte. Seit 2007 gab es Sicherheitskontrollen an sämtlichen Eingängendes Gebäudes, was dazu geführt hatte, dass die meisten Leute, die hier ein und aus gingen, es nicht mehr für nötig hielten, ihre Instinkte zu bemühen. Außerdem hatte der Mann über einen langen Zeitraum hinweg die Fähigkeit perfektioniert, seine Mitmenschen genau das sehen zu lassen, was sie zu sehen erwarteten. Ein Talent, das ihm in Situationen wie dieser sehr zupasskam.
    »He«, beschwerte sich die resolute ältere Dame, die schon seit geraumer Zeit neben seinem Stuhl stand. »Wären Sie wohl mal so nett, mich durchzulassen?«
    Der Mann erhob sich ohne Hast und trat einen Schritt zurück.
    »Danke.« Die Rentnerin schlängelte sich an ihm vorbei, wobei sie es bewusst vermied, dem Fremden ihren Allerwertesten zuzukehren. »Was ist?«, fragte sie, als sie seinen Blick bemerkte. »Warum lächeln Sie?«
    »Gutes Benehmen«, antwortete der Mann.
    Die Frau warf ihm einen verständnislosen Blick zu.
    »Selten genug heutzutage.«
    »Tja«, sagte die Frau. »Leider.«
    Er nickte nur. Dann drehte er sich um und ging lächelnd davon.
2
    Das Erste, was Jenny Dickinson wahrnahm, als ein Hauch von Bewusstsein in sie zurücksickerte, war ein unbestimmtes Gefühl von Enge.
    Sie versuchte, den Kopf zu heben, aber es gelang nicht. Stattdessen entdeckte sie einen Schmerz, den sie nicht näher lokalisieren konnte. Schmerz und auch ein Kribbeln. Wie Blut, das langsam und zäh in einen abgestorbenen Teil von ihr zurückfloss.
    Jenseits ihres Körpers schien die Welt dagegen ganz und gar aus Watte zu bestehen. Es gab keine Konturen. Keinen Bezugspunkt, an dem sie sich hätte orientieren können. Weder räumlich noch zeitlich. Nur ein dumpfes, bodenloses Nichts ohne Anfang und Ende.
    Seltsamerweise hatte sie trotz allem den Eindruck von Begrenzung. Von Mauern oder Wänden, die ganz in ihrer Nähe waren. So dicht, dass sie die Kälte spüren konnte, die von ihnen ausging.
    Sie lag ganz still und konzentrierte sich auf ihren Atem. Den Schlag ihres Herzens. Das Leben, das in ihren Adern pulste. Und irgendwann wurde ihr auch bewusst, dass sie nur durch die Nase Luft bekam. Auf ihren Lippen war etwas, das entfernt nach Blut und Gummi schmeckte. Klebeband vermutlich. Das harte Plastik machte ein knisterndes Geräusch, wenn sie schluckte, und die Erkenntnis, nicht schreien zu können, überschwemmte sie unvermittelt mit einer Welle von Panik. Zugleich schienen sich die Schleimhäute in ihrer Nase immer mehr zu verengen. Als ob sie versuche, durch einen Strohhalm zu atmen. Ihr Herz begann zu rasen, und Jenny merkte, wie sich nun auch ihr Magen zusammenzog. Übelkeit stieg auf.
    Nicht kotzen, dachte sie verzweifelt. Wenn du kotzt, erstickst du.
    Lenk dich ab! Immerhin hast du Psychologie studiert. Du weißt, wie man sich selbst austrickst. Wie man das Bewusstsein manipuliert.
    Sie schluckte wieder, doch das Brennen in ihrer Kehle ließ nicht nach. Woran muss ich denken, wenn ich wieder zu Hause bin?, zwang sie sich, ihre Gedanken auf etwas völlig Banales zu lenken. Was muss erledigt werden?
    Olivenöl, Brot,
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