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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön
Autoren: Judith Winter
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Samstag, 27. Oktober
    Die Nacht war sternenklar und längst nicht so kalt, wie der Wetterbericht angekündigt hatte. Zumindest kam es Alois Berneck so vor.
    Schon seit über einer Woche hatte es nicht geregnet. Trockenes Laub raschelte auf dem Weg zu ihren Füßen. Sie gingen ohne Licht, dicht hintereinander. Durch die Kronen der hohen Bäume ringsum fiel silberner Mondschein, und die Luft duftete würzig nach Pilzen und offener Erde.
    Eigentlich schön, dachte Berneck zitternd.
    »Nach rechts«, befahl die Stimme, die er nicht kannte.
    Rechts, das bedeutete jenseits des Weges.
    Das ist nicht gut, dachte Berneck. Aber er wagte es nicht, Widerstand zu leisten.
    Nach ein paar Hundert Metern meldete sich die Stimme in seinem Rücken erneut: »Da vorn. Die Leiter.«
    Berneck kniff die Augen zusammen, doch zuerst sah er gar nichts. Erst als sie näher herankamen, entdeckte er ein Stück vor sich ein paar morsche Holztritte. Stufen.
    »Steig rauf!«
    Er zögerte. Das Holz sah wenig vertrauenerweckend aus. Weiter oben schien eine Art Plattform zu sein. Doch davon war kaum mehr als eine vage Kontur zu erkennen. Berneck sah ein Tarnnetz, ganz ähnlich denen, die sie früher bei der Bundeswehr benutzt hatten, um im Manöver Panzer oder Schützengräben unkenntlich zu machen.
    Offenbar ein Hochsitz für Jäger.
    Direkt über ihren Köpfen donnerte ein Airbus vorüber. Landeanflug. Das ausgeklappte Fahrgestell zum Greifen nahe.
    Hilfe , flehte Berneck stumm, wohl wissend, dass man sie nicht sehen konnte. Nicht von diesem Flugzeug aus. Und doch wehte ihn beim bloßen Anblick des landenden Fliegers ein Hauch von Trost an. Noch einmal, ein letztes Mal die Nähe anderer Menschen spüren. Wissen, dass sie sich nah am Flughafen befanden. Ein winziger Orientierungspunkt in einem Meer von Fragen.
    »Los, hoch!«, wiederholte die Stimme in seinem Nacken, während die blinkenden Lichter des Airbus hinter den düsteren Baumkronen verschwanden.
    Und plötzlich war es doch kalt. Eisig wie in einem Schlachthaus.
    »Was haben Sie vor?«, fragte Berneck. »Was wollen Sie von mir?«
    Erwartungsgemäß erhielt er keine Antwort. Als er den Lauf der Flinte zwischen seinen Schulterblättern spürte, setzte er den Fuß auf die unterste Stufe. Dann verlagerte er vorsichtig das Gewicht, und tatsächlich: Die Leiter hielt.
    Während er zögerlich Stufe um Stufe erklomm, dachte er über die Frage nach, warum der Mann hinter ihm so unendlich geduldig war. Er schien weder Angst noch Eile zu haben. Fast so, als würde er jede Sekunde dieses perfiden Spiels genießen.
    Oben angekommen, blickte Berneck in die Tiefe, wo der Waldboden in der Dunkelheit verschwand, und er überlegte, ob es nicht besser wäre, der Sache selbst ein Ende zu bereiten. Allerdings hätte er nicht mit letzter Sicherheit sagen können, ob die Höhe ausreichte, um sich das Genick zu brechen. Und wenn er nicht sofort tot war, würde es nur noch schlimmer werden.
    Noch schlimmer , wiederholte etwas tief in ihm. War das überhaupt möglich?
    Auf der Leiter hinter ihm kamen die Schritte seines Verfolgers unaufhaltsam näher. Berneck hörte, wie die schweren Stiefelüber die letzte Stufe rutschten, und plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht eine Chance gehabt hätte. Niemand konnte schießen und klettern zugleich. Und die steile Leiter zu erklimmen, ohne sich festzuhalten, war ein Ding der Unmöglichkeit.
    Du hattest die Chance, ihn zu besiegen.
    Ein Tritt ins Gesicht, und er wäre vielleicht gestürzt …
    Doch aus irgendeinem Grund fühlte sich Berneck wie gelähmt.
    »Und jetzt?«, fragte er, als der Fremde hinter ihm auf der hölzernen Plattform stand.
    Seltsamerweise hatte er keinen Zweifel daran, dass er sterben würde. Und doch interessierte er sich auf einmal für die Details.
    Warum? Wann? Wie?
    »Ist er …« Seine Stimme klang verloren in der finsteren Weite des Waldes. »War er Ihr Vater oder so was?«
    »Wer?«
    »Karl …« Er hustete trocken. »Karl Czernik.«
    Lachen. »Nein.«
    »Aber es hat mit …« Berneck unterbrach sich und unternahm einen neuen Anlauf: »Aber es hat damit zu tun, oder?«
    Der Mann antwortete nicht.
    Berneck wartete. Lauschte seinem eigenen Atem, während sich nach und nach eine unwirkliche, fast gespenstische Ruhe in ihm breitmachte. Das Zittern verschwand. Seine Beine gehorchten ihm wieder. Zugleich war sein Kopf mit einem Mal von einer angenehmen Kühle erfüllt. Kühle und Klarheit. Es war absurd, aber er hatte tatsächlich das Gefühl,
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