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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön
Autoren: Judith Winter
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Schweinehälften an dikken Rohrbahnhaken vorbeischwebten.
    Sie wandte den Kopf und spähte durch die leeren Fensterhöhlen hinaus in den Schnee und über den Main, der im dichten Flockengetümmel wie gepixelt aussah. Dort drüben, nur einen Steinwurf entfernt auf der anderen Flussseite, stand das Haus, in dem sie Jonas Tidorfs Leiche gefunden hatten.
    Em hielt die Luft an, als vor ihrem inneren Auge wieder das Kellerabteil aufblitzte. Der nackte graue Boden, buchstäblich getränkt mit dem Blut des Studenten. Die verkrustete Wunde an seinem Hals …

    Eines stach sich selber tot …
    Schnell blinzelte sie die Bilder fort, während die Verse des makabren Kinderliedes hinter ihrer Stirn pochten. Sie kannte sie alle auswendig. Jede einzelne Strophe. Jedes einzelne Wort. Ein Widerhall des Schreckens.

    Fünf kleine Negerlein, die tranken bayrisch Bier …
    Em stutzte, als sich inmitten der Verse urplötzlich Deckers vertraute Stimme manifestierte: Er hat dem Mädchen mit einer Bierflasche auf den Kopf geschlagen . Sie hatte das Gefühl, dass ihre Beine nachgaben. Und dann hat er Steven in einen Raum neben der Küche gelockt .
    Die Küche, wiederholte sie stumm. Norén hat Steven Bost in einen Raum neben der Küche gelockt …

    Vier kleine Negerlein, die kochten einen Brei …
    Die Erkenntnis durchzuckte sie wie ein Blitz. Das hier war tatsächlich eine Falle! Kein glücklicher Zufall. Kein Instinkt, der ihr verraten hatte, wo sie ihn finden konnte. Es war sein Plan. Der Plan eines unverbesserlichen Pedanten, der selbst noch mit dem Rücken zur Wand eine geradezu perfide Gründlichkeit an den Tag legte.

    Drei kleine Negerlein spazierten am Bau vorbei …
    Er hat mich ausgetrickst. Em schluckte trocken. Er wollte, dass ich ihn sehe. Und ihm folge. Hier hinauf. In diese schwindelerregenden Höhen. Wo uns niemand hört. Wo mir niemand helfen kann. Er hat mich genau dort, wo er mich haben wollte. Am Abgrund.
    Als sie hinter sich das charakteristische Klicken hörte, stand sie ganz still.
    Warum auch nicht? Immerhin war die Sache ziemlich eindeutig. Das Spiel war aus. Sie hatte verloren. Norén hatte Steven Bost seine Dienstwaffe abgenommen und ihn anschließend damit erschossen. Sie hatte das gewusst. Sie hatte ihre Chance gehabt. Aber sie war einfach zu langsam gewesen. Zu blöd. Zu verbohrt. Und nun saß sie in der sprichwörtlichen Scheiße.
    »Waffe fallenlassen!«
    Sie tat, was er verlangte. Alles andere hatte sowieso keinen Zweck.
    »Schieben Sie sie weg von sich.«
    Em drehte sich zu ihm um.
    »Tun Sie’s!«
    »Schon gut.« Sie bückte sich und sah zu, wie die Heckler und Koch über den rohen Boden schlitterte.
    Norén setzte nach und kickte die Pistole in die entgegengesetzte Ecke. Er stand etwa fünf Meter entfernt. Auf den ersten Blick ein charmanter junger Mann. Wären da nicht seine Augen. Die kühle, unbarmherzige Neugier, die aus ihnen sprach. Ein brillanter, aber völlig gnadenloser Verstand. »Spielen wir ein Spiel, Signora?«
    Em machte einen Schritt rückwärts. In ihrem Rücken gähnte der Abgrund. Sie konnte ihn fühlen. Wie ein Vakuum, das danach gierte, sie zu verschlingen. Trotzdem kam ihr die Tiefe weitaus weniger gefährlich vor als der Mann, der vor ihr stand. »Die Signora können Sie sich schenken, okay? Ich bin Frankfurterin.«
    Norén grinste und kam einen Schritt näher. Wie ein Forscher, der an den Käfig mit seinen Versuchskaninchen trat. Er hat nie um des Tötens willen gemordet, dachte Em schaudernd. Immer hat er einen klaren Zweck verfolgt. Er wollte wissen, wie lange zwei Kinder zum Verbluten brauchen. Und er wollte Rache an dem Mann, der ihm attestiert hat, ein Monster zu sein. Automatisch wich sie noch weiter zurück. Der raue Wind zerrte an ihrer Jacke. Riss an ihren Locken, die sie im Nacken zusammengebunden hatte. Berührte ihre Haut. Wie eine eisige Hand, die sich von hinten um ihren Hals legte.
    »Imposante Aussicht, nicht wahr?«
    »Kann man so sagen.« Em hörte ihr eigenes Lachen, das der Wind davontrug. Es klang fremd. Und bei weitem nicht so lässig, wie sie beabsichtigt hatte. »Ihnen ist klar, dass Sie nicht den Hauch einer Chance haben, oder?«
    »Glauben Sie?« Er schien nachzudenken. »Nun, das sehe ich anders.«
    Em spürte die Kante der Mauer hinter sich. Lächerliche vierzig Zentimeter Beton, die sie von der gähnenden Tiefe trennten. Bislang hatte sie es bewusst vermieden, nach unten zu sehen. Doch jetzt kam sie nicht mehr umhin, und der Anblick des düsteren
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