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Rosenrot

Titel: Rosenrot
Autoren: Arne Dahl
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    Sich schwarz ärgern, dachte er und fixierte sein Spiegelbild. Für einen flüchtigen Augenblick ließ ein kaum spürbares Beben die Konturen leicht verschwimmen.
    Nur eine Minute später, oben auf dem Dach, würde er denken: Hätte ich nicht schon da reagieren sollen? Hätte ich nicht wachsamer sein sollen? Hätte ich nicht begreifen müssen, dass dieses kaum erkennbare Beben ein Vorbote war?
    Dann wäre ich noch am Leben.
    Doch das war später. Jetzt beschäftigte ihn etwas anderes. Die versteckten Vorurteile der neuen Sprache nahmen ihn in Anspruch. Sein letzter Gedanke sollte sein: Vielleicht war es genau das, was mich getötet hat.
    Aber bis dahin war es noch fast eine Minute.
    Er dachte: der schwarze Tod, die schwarze Liste, schwarze Löcher und schwarze Schafe. Er dachte: Schwarzmakler, Schwarzarbeit, Schwarztaxi.
    Er dachte: vollkommen schwarz geärgert.
    Das bedeutet, dass der Zorn die Vernunft verdunkelt. Und dass man es sieht.
    Und er folgte den schwarzen Konturen des Spiegelbilds, immer wieder, bis er seinem eigenen weißen Blick begegnete, und nur fünfzig Sekunden später sollte er denken: Vielleicht war ich wirklich, in dieser kurzen Gnadenfrist, schwarz vor Wut. Vielleicht hat der Zorn in dieser Minute, die Leben von Tod trennte, meine Vernunft verdunkelt. Vielleicht ist in den versteckten Vorurteilen der Sprache ein feiner Determinismus versteckt.
    Wie schnell die Gedanken liefen, wenn die Pforte zum Reich des Todes in Sicht war.
    Aber das dachte er erst fünfundvierzig Sekunden später.
    Jetzt dehnte er ein wenig den Nacken. Kohlschwarz, dachte er. Pechschwarz, dachte er. Rabenschwarz, tiefschwarz, nachtschwarz.
    Er drehte sich weg vom Spiegel, dem einzigen Wandschmuck des kargen Raums, und sah zur Küche hin. Ein diesiges Spätsommerlicht schien Staubkörner aufzuwirbeln, als es durch das ungeputzte Küchenfenster der kleinen Zweizimmerwohnung sickerte.
    An der Kante des Küchentischs, in beunruhigender Nähe von Sembenes ständig fuchtelndem rechten Ellenbogen, stand ein altmodischer Wecker, dessen Ticken unnatürlich laut klang.
    Tick-tack.
    Tick-tack.
    Oder sollte er das erst vierzig Sekunden später so empfinden?
    Wahrscheinlich.
    Da saßen sie alle, vollkommen schwarze Gesichter, und sahen nachmittagsträge aus. Nur Sembene war energisch wie immer. Er redete laut und eindringlich. Viermal berührte sein Ellenbogen den Wecker, der immer näher an die Kante rutschte. Und war das Ticken nicht unnatürlich laut? Obwohl Sembene fast schrie, hörte er seine Stimme nicht. Er hörte nur das langsame, immer kostbarer werdende Ticken.
    Aber vielleicht kam ihm das Ticken erst eine halbe Minute später kostbar vor, als es schon vorbei war.
    Vielleicht sah er erst da jenes letzte Sandkorn durch den verengten Hals des Stundenglases zu den anderen hinabkullern. Das Sandkorn blieb einen Moment in der Schwebe, als wollte es am Rand liegen bleiben, als gäbe es noch eine Chance, eine Öffnung, eine Möglichkeit.
    Aber dann fiel es.
    Es war am helllichten Nachmittag. Sie konnten nicht aus dem Haus gehen. Ihre Arbeit existierte nicht bei Tage. Schwarzarbeit wurde in der pechschwarzen Nacht ausgeführt.
    Er tat ein paar Schritte auf den Tisch zu, und als diese Schritte zwanzig Sekunden später in seinem Innern noch einmal abliefen, war es ganz deutlich, dass sein Herz sich in diesem Augenblick zu einem winzigkleinen Sandkorn zusammenzog, das am Rand des Halses im Stundenglas noch in der Schwebe blieb, bevor es fiel und eine höchst unbedeutende weitere Gestalt mit den unzähligen Toten der Weltgeschichte vereinigt wurde.
    Ja, man wird ein bisschen pathetisch in der unmittelbaren Nähe des Todes.
    Er zog einen Stuhl heran, um sich an den Tisch zu setzen. Der Wecker tickte. Er tickte laut.
    Er sah sich im Wandspiegel und erstarrte zu Eis.
    Wieder ließ ein leichtes Beben seine schwarze Kontur verschwimmen. Fünfzehn Sekunden später war ihm klar, dass er genau in dem Moment verstanden hatte. Und da war es viel zu spät.
    Das allerletzte Ticken, das der alte Wecker jemals von sich geben sollte, war unglaublich laut.
    Tick-tack.
    Eine Explosion.
    Die Wohnungstür neben dem Wandspiegel flog auf. Splitter wirbelten. Der Spiegel fiel von der Wand und zerbarst auf dem Fußboden. Uniformierte Polizisten quollen herein, rutschten auf Spiegelscherben und Türsplittern aus.
    Der erste Polizist kam direkt auf ihn zu und trieb ihn mit seltsamem Zielbewusstsein hinüber zum Schlafzimmer. Er war beleibt, trug einen blonden
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