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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er
Autoren: Andrea de Carlo
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Mädchen.
    In der Tat löst sich das Wasserflugzeug von der Mole, strebt unaufhaltsam ins Offene; die zwei Schwimmer zerteilen schäumend das Wasser, lassen kleine Wellen zurück. In seinem Kopf überschlagen sich die unrealistischsten Bilder: Verfolgung mit dem Motorboot, Sprünge, Anklammern an das Flugzeug, Faustschläge auf die Fensterscheiben der Kabine, sich drehende Pilotenköpfe, entsetzte Mienen. »Wann geht das nächste?«, fragt er, verzweifelt bemüht, die Konturen seiner Wörter zu wahren.
    »In sieben Minuten.« Das Mädchen zeigt auf den Monitor über seinem Kopf.
    »Geben Sie mir einen Platz!« Er knallt seine Kreditkarte auf den Tresen.
    Dann wandert er vor dem Berghütten-Terminal auf und ab, betrachtet das graue Meer und den grauen Himmel. Sobald das elektromagnetische Schloss das Gittertor öffnet, geht er die Rampe zu der schwimmenden Mole hinunter. Als Erster steigt er in den schrägen Rumpf des Wasserflugzeugs ein, setzt sich auf den ersten Platz vorne rechts, direkt hinter den Kopiloten, der ein paar Karten studiert.
    Noch mehr wirre Bilder gehen ihm durch den Kopf, unaufhaltsam: lange Sprünge durch die Kabine, mit Gewalt vom Einsteigen abgehaltene Passagiere, zugeschlagene Tür, bedrohter Kopilot, erzwungener Start, während vom Terminal Alarmsignale ausgesendet werden. Er starrt weiter in den bedeckten Himmel vor dem Fenster, doch man sieht nichts, am wenigsten das Wasserflugzeug, in dem sie vielleicht sitzt; dauernd dreht er sich zur Tür um, während das Boarding sich endlos hinzieht.
    Die anderen Passagiere nehmen nach und nach auf den steifen Sitzen Platz; ein großer, korpulenter Mann setzt sich neben Deserti, drängt die Schulter an seine. Unaufhaltsam verstreichen weitere kostbare Minuten, dann schließt der Pilot die Tür, zwängt sich durch den engen Korridor und setzt sich neben den Kopiloten. Er ist mager, trägt eine Pilotensonnenbrille, hat ein ausgemergeltes Gesicht, ein vorgeschobenes Kinn und hohe Wangenknochen. Mit dem Daumen betätigt er eine Reihe von Schaltern, kontrolliert einige Anzeigen, schaut forschend hinaus, tuschelt mit dem Kopiloten, kaut Kaugummi.
    Deserti wendet den Blick nicht von ihm, übt geistig ständig Druck auf seine Gesten aus, um sie zu lockern, zu befördern, zu beschleunigen.
    Der Pilot greift zu einem Mikrophon, das an einen kleinen Lautsprecher angeschlossen ist: »Bitte anschnallen«, krächzt seine verzerrte Stimme. Leicht schief, die eckigen Knie angezogen, sitzt er auf seinem Platz. Endlich lässt er den Motor an: Der Propeller beginnt sich zu drehen, die Wasseroberfläche kräuselt sich. Langsam lösen sie sich von der schwimmenden Mole, unaufhaltsam bewegen sie sich aufs offene Meer hinaus. Der Propeller dreht sich rascher, der Motor versetzt den ganzen Rumpf in tönende Schwingung, die Schwimmer hüpfen auf dem Wasser, prallen immer stärker ab, bis sie sich endgültig lösen; das Wasserflugzeug klettert in die Luft.
    In einigen Dutzend Metern Höhe fliegen sie an den Wolkenkratzern der ans Wasser gebauten Stadt vorbei und kurven über einem Schlepper, einem Containerschiff, einem Schwefeldepot, Bergen von gelbem Staub. Zwischen feinen, zerfransten Wolken steigen sie auf ein paar hundert Meter über dem grauen Meer, überfliegen eine baumbestandene Insel mit einem einsamen Haus auf einer Lichtung, ein Floß aus schwimmenden Stämmen, weitere Inseln mit Häusern an kleinen Stränden oder auf Felsen, ein Segelboot, das zwischen den Inseln kreuzt.
    Er lehnt die Stirn ans Fenster; die Elemente der Landschaft unten kommen ihm wie zufällig im Raum verteilte Stücke einer Welt ohne gesicherte Namen und Verbindungen vor. Immer wieder sieht er im Geist den orangefarbenen Koffer, der in das andere Wasserflugzeug eingeladen wird, stellt sich vor, dass Clare Moletto hinausschaut wie er, nur viel näher an Victoria, vielleicht schon unerreichbar, ohne die geringste Ahnung, dass er ihr nachreist. Seine Eile ist in der Vibration des Motors gefangen, die sogar die Sitze in ihrer Verankerung wackeln lässt und in ihm Impulse auslöst, die er nicht ausleben kann.
    Der Himmel wird immer finsterer: Das Licht nimmt ab, weiße Wolkenfetzen ziehen an den Fenstern vorbei vor einem dichten grauen Hintergrund, der beinahe das Meer verbirgt. Der Pilot dreht unablässig den Kopf in mehrere Richtungen: Er schaut nach oben und unten und zur Seite, neigt den Hals, spricht leise mit dem Kopiloten. An einem bestimmten Punkt greift er erneut zum Mikrophon: »Die Sicht
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