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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er
Autoren: Andrea de Carlo
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Thema zu durchdringen und wirklich zu verstehen. Offenbar gilt das für alles, für ein Handwerk, eine Sprache und jeden anderen Bereich des menschlichen Interesses. Sie versucht auszurechnen, wie viele Tage zehntausend Stunden sind, verrechnet sich aber ständig. Zuletzt holt sie ihr schwarzes Heftchen aus dem Rucksack und macht die Teilung schriftlich: Es sind vierhundertsechzehn Komma soundso viel Tage. Ihr fällt ein, dass die Rechnung nur stimmt, wenn sich jemand vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage pro Woche seinem Thema widmen würde, was natürlich nie vorkommt. Wenn man die vierhundertsechzehn Tage auf den Rhythmus eines Lebens mit einem normalen Tagesablauf umrechnet, entsprechen die zehntausend Stunden etwa drei Jahren. Ungefähr so lange, wie ihre Beziehung zu Stefano gedauert hat; was immer zwischen ihr und Daniel Deserti gewesen ist, hat dagegen nicht einmal ein Hundertstel dieser Zeit gedauert. Ihr kommt eine Volksweisheit in den Sinn, die sie einmal aus dem Mund ihrer Großmutter Amanda gehört hat: Lieber ein erkannter Fehler als eine eingebildete Begabung. Damals fand sie, dieser Spruch schließe alle Überraschungen aus, die das Leben bereithalten mochte, er brachte das Gegenteil all dessen zum Ausdruck, was sie glauben und hoffen wollte, doch wenn sie es heute bedenkt, lässt sich kaum leugnen, dass er stimmt. Dennoch findet sie den Satz immer noch abscheulich; und das beweist einmal mehr, wie wenig sie aus ihren Fehlern lernt.
    Zuletzt kauft sie das Buch über den sprechenden Papagei und setzt sich in den Wartebereich vor ihrem Abfluggate; doch sie hat Mühe, auch nur bis ans Ende der dritten Seite zu gelangen, denn fast sofort überrollt sie eine neue Welle bodenloser Traurigkeit.
     
    Auf dem letzten Abschnitt des Flugs fühlt er sich beinahe wie in Trance
     
    Auf dem letzten Abschnitt des Flugs fühlt er sich beinahe wie in Trance durch das ständige Vibrieren der Motoren, den immer wieder umgewälzten Luftstrom, die Sonne, die unentwegt zu den Fenstern hereinbrennt, und die unerträgliche Langeweile des erzwungenen langen Stillsitzens. Die anderen Passagiere beginnen schon, sich zurechtzumachen und auf das vorzubereiten, was sie beim Aussteigen erwartet: Sie gähnen, strecken sich, klopfen die Krümel von Hemden und Hosen, überprüfen ihre Papiere, gehen mit taumelnden Schritten zur Toilette, kommen frisch geschminkt und halbwegs frisiert zurück. Überall sieht man die Spuren der kleinen Beschäftigungen auf engem Raum, die unterbrochen und wiederaufgenommen wurden, bis sie keinen Sinn mehr hatten: die zerknitterten dünnen Decken, die aufgerissenen Plastiktüten, die zerquetschten Plastikbecher und Wasserflaschen, die zerlesenen Zeitungen, in die Taschen an der Rückseite des Vordersitzes geschoben, zu den Illustrierten der Fluggesellschaft, die man aus Ermangelung von etwas Besserem ebenfalls durchgeblättert hat. Das Flugzeug beginnt zu sinken; man sieht die weitflächige Stadt, das Wasser, die Inseln. Die Vibrationen wechseln die Frequenz, wegen der Temperaturveränderungen der Luft gibt es ab und zu einen Ruck: Er denkt an die unwahrscheinliche, aber dennoch bestehende Möglichkeit, dass beim Landemanöver etwas schiefgeht und das Leben aller im Flugzeug sitzenden Personen mit einem Schlag ausgelöscht wird.
    Als sie endlich die Landebahn entlangrollen, löst er den Sicherheitsgurt, noch bevor das Flugzeug zum Stehen kommt, drängt sich zwischen den anderen Passagieren durch, die hastig ihre Jacken, ihr Handgepäck und andere Utensilien zusammensuchen, und eilt durch den Verbindungsgang in den Flughafen. Rasch geht er den vorgeschriebenen Weg, als einziger Reisender ohne Tasche, Tüte, Rucksack oder Koffer, nur zu sehr im Klaren darüber, wie hoffnungslos die Suche ist, die ihn hierhergeführt hat. Er hat keinen Anhaltspunkt, um in Erfahrung zu bringen, ob sie schon angekommen ist oder noch ankommen soll, wann, von wo, ob sie nicht doch in Mailand geblieben ist, ob sie nicht in irgendeinen anderen Teil der Welt gereist ist. Er weiß weder, wie ihre Schwester heißt, noch, wo sie wohnt, er hat keine Telefonnummer, keine Adresse: nichts.
    Unter den großen Glasscheiben, die das blendende Licht noch verstärken, geht er im Vogelgezwitscher, das aus den Lautsprechern kommt, zwischen den Hängepflanzen und den künstlichen Wasserfällen die breite Treppe hinunter, die zur Passkontrolle und zur Gepäckausgabe und zum Zoll führt. Immer noch mustert er jede Person, die herumsteht
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