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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er
Autoren: Andrea de Carlo
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oder -geht, aber mehr aus einem automatischen Reflex heraus als in der Hoffnung auf eine wunderbare Erscheinung. Er könnte sich auch Zeit lassen, denkt er, und denen, die es eilig haben, den Vortritt lassen, den distanzierten Reisenden mimen. Er sieht sich schon in der Stadt, jenseits der Schiebetüren aus mattiertem Glas dort am Ende der riesigen Halle: in einem Taxi sitzend ohne genaues Ziel, in einem Hotelzimmer auf dem Bettrand sitzend, aufs Geratewohl durch die Straßen wandernd, am Wasser stehend, mit Blick auf den Horizont. Unwahrscheinlich, dass diese Bilder sich in eine fröhlichere oder bedeutsamere Richtung entwickeln könnten; sie sind wie Fotos, die ein Fremder auf der Theke eines Fotolabors liegengelassen hat: unbedeutend.
    Dann steht er in der Schlange vor einem der asymmetrisch angeordneten Schalter der Passkontrollen und schaut sich nur noch deshalb um, weil er nicht anders kann, und an einem anderen Schalter ein paar Dutzend Meter weiter sieht er den orangefarbenen Koffer, den Clare Molettos Freundin ihr vorgestern Abend in Mailand heimlich irgendwohin gebracht hatte. Der Koffer bewegt sich, gezogen von einer Frau mit Lockenkopf, die weitergeht und gleich verdeckt wird von den weißen Westen und Schirmmützen eines dicken Paares direkt hinter ihr. Es ist kein allmähliches Erkennen: Es ist wie ein Blitz, der unverarbeitet und voller Wucht von den Augen direkt ins Gehirn vordringt.
    Eine Sekunde später sind der orangefarbene Koffer und der Lockenkopf bereits verschwunden, verloren zwischen den Dutzenden von Sichtbehinderungen und dem Hin und Her in der Ankunftshalle. Er macht einen Satz, versucht, sich an den Leuten in der Warteschlange vorbeizudrängen, und schreit, so laut er kann: »Claaaaaaaare!« Seine Stimme hallt kreischend wie der Schrei einer Möwe über die spiegelblanken Flächen und verliert sich in der Weite des geschlossenen Raums. Alle Reisenden, die er überholen wollte, schauen ihn mit empörten oder drohenden Gesichtern an. Ein weißhaaariger Typ mit rotgeäderter Nase brüllt: »He, warten Sie, bis Sie an der Reihe sind! Das ist eine Schlange hier!«
    »Ich muss aber sofort durch!«, schreit er, mitgerissen von seinen sich überschlagenden Gedanken. »Es geht um Leben und Tod!«
    Der Typ schüttelt den Kopf, seine Augen bleiben völlig kalt; die anderen Reisenden pflichten ihm bei, bilden einen Block, gestikulieren, knirschen mit den Zähnen, runzeln die Augenbrauen, wiederholen: »Das ist eine Schlange hier!« und: »Warten Sie, bis Sie an der Reihe sind!«
    »Claaaaaaaaaare!«, schreit er noch einmal; mit einem Sprung beugt er sich zwischen den anderen Köpfen vor, fuchtelt mit den Armen.
    »Wenn Sie nicht aufhören, rufen wir die Sicherheitsbeamten!«, sagt eine Dame mit fürchterlich hartem Gesicht.
    Er wirft verzweifelte Blicke in die Richtung, in die der orangefarbene Koffer und der Lockenkopf verschwunden sind, kann sie aber nicht mehr sehen. Je mehr Sekunden verstreichen, umso mehr Zweifel kommen ihm: Vielleicht war der orangefarbene Koffer kleiner als der, den er in Mailand gesehen hat, vielleicht waren die Haare dunkler als die, an die er unausgesetzt gedacht hat, vielleicht war nicht einmal die Größe die von Clare Moletto. Die Zweifel vervielfachen sich in seinem Kopf wie die trügerische Auswahl auf den Regalen eines Supermarkts, sie mischen sich mit dem Drang loszurennen, der seinen Herzschlag beschleunigt und seine Füße nicht stillstehen lässt. Er möchte nur eins: durch die Halle laufen, suchen, die Verfolgung aufnehmen, ankommen, sich dem Schock der Enttäuschung oder des Erkennens aussetzen, die Unsicherheit beenden.
    Stattdessen ist er in dieser lächerlichen Schlange gefangen, hinter fünf oder sechs Reisenden, die auf den Rücken ihres Vordermanns starren, während sie darauf warten, mit der Grenzwache sprechen zu dürfen.
    Nach einer Ewigkeit passiert endlich auch die Frau mit dem fürchterlich harten Gesicht die Kontrolle; er springt vor, hält den Pass an den Schalter, seine Hand zittert vor Wut und verzehrender Ungeduld.
    Der Typ in Uniform ist ein kräftiger Bursche mit schütteren, nach hinten angeklatschten Haaren und einem blassen Kartoffelgesicht: »Grund der Reise?«, nuschelt er.
    »Ich muss eine Person einholen!« Er deutet auf den weiten Raum gleich anschließend, in dem sie, oder wer auch immer es war, mit dem orangefarbenen Koffer verschwunden ist.
    »Arbeit oder Tourismus?«, fragt der Uniformierte ungerührt.
    »Keins von beiden!«, sagt
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