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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er
Autoren: Andrea de Carlo
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Passanten gehen in allen Richtungen vorüber, zu viele Autos hupen hinter dem Taxi. »Steig sofort wieder ein!«, schreit der Taxifahrer.
    »Halt weiter vorne!«, schreit er zurück, und auf einmal sieht er zwischen den Autos und den großen Säulen eines hässlichen Gebäudes den orangefarbenen Koffer aufleuchten, der vielleicht Clare Moletto gehört. Die Vision dauert noch kürzer als am Flughafen: Eine Sekunde später ist sie verschwunden. Er bleibt mit dem Blick an dem genauen Punkt hängen, ihm scheint, als könne er durch die massive Betonmauer gleich hinter den Säulen hindurch beobachten, wie der orangefarbene Koffer vorbeirollt.
    Der Taxifahrer hält einige Meter weiter vorn am Gehsteigrand, streckt sich mit entnervender Langsamkeit zum Taxameter, tippt auf einige Tasten, beugt sich mit vorwurfsvoller Miene heraus und sagt: »Dreißig Dollar.«
    Ihm wird bewusst, dass er nichts gewechselt hat, weil er in Gedanken ganz woanders war; er zieht einen Fünfzig-Euro-Schein aus der Tasche und hält ihn dem Taxifahrer hin.
    Der Taxifahrer betrachtet den Schein, ohne ihn zu berühren und sagt: »Kanadische Dollar.«
    »Das sind Euro«, schreit er. »Die sind mehr wert als kanadische Dollar!«
    »Kanadische Dollar«, wiederholt der Taxifahrer kopfschüttelnd.
    »Awwwrrrrrr!«, brüllt er und dreht sich wieder zu den Säulen um, hinter denen vielleicht Clare Moletto verschwunden ist, falls es tatsächlich sie war und nicht eine beliebige Unbekannte.
    Unbeugsam sieht der Taxifahrer ihn an.
    Er holt die Kreditkarte aus der Tasche: »Ist die okay?«
    Der Taxifahrer nickt, langsam, als wären nicht zwei ganze Leben in Gefahr, wegen dieser endlosen vergeudeten Minuten für immer zerstört zu werden. Er schiebt die Kreditkarte in ein kleines Lesegerät, das an einem Spiralkabel hängt, tippt sorgfältig den Fahrpreis ein, wartet gelassen, dass auf dem grünlichen Display eine Antwort erscheint, und nach einer weiteren Menge vergeudeter Zeit quillt aus einem Schlitz an dem Gerät die Quittung.
    Er unterschreibt mit einer der unleserlichsten Unterschriften, die er je geleistet hat, wartet seinen Beleg nicht ab, rennt davon auf dem zu hohen und zu schmalen Gehsteig, der an dem hässlichen Betongebäude entlangführt, überholt einige Menschen, die im Schneckentempo mit ihren Rollenkoffern die Kurve einer Rampe hinuntergehen. Am Ende der Rampe führt ein Landungssteg ins Wasser, rechts und links davon sind zwei hölzerne Pfahlhäuser, etwas weiter drüben zwei schwimmende Molen, an denen zwei Wasserflugzeuge mit verschiedenen Farben und Beschriftungen festgemacht sind.
    Neben einem der beiden Wasserflugzeuge steht ein Typ im blauen Overall, der Taschen und Koffer in den Gepäckraum einlädt, während die Passagiere über eine Gangway gehen und unter der Aufsicht eines Piloten oder Hilfspiloten beim Einsteigen den Kopf einziehen. Und der Koffer, den der Mann im Overall in diesem Augenblick in der Hand hält - kaum erkennbar wegen der Leute, die dazwischentreten, wegen der Entfernung, des Blickwinkels und der Aufregung, die Deserti erfasst -, ist orangefarben. Gleich darauf ist er schon im Gepäckraum, andere Koffer sind schon nachgeschoben, alle Passagiere schon eingestiegen, Pilot und Kopilot schon an Bord, die Türen schon geschlossen.
    Deserti rennt auf die schwimmende Mole zu, doch ein Gittertor versperrt den Weg, ein Schild verkündet: Gate closed. Die Gangway zur Mole wird eingezogen, der Propeller des Wasserflugzeugs beginnt sich zu drehen. Er rüttelt zwei- oder dreimal verzweifelt an dem Gitter, schaut sich um, läuft zu einem der beiden Stelzenhäusern hinüber und stürmt hinein.
    Das Innere ist eine Mischung aus Berghütte und kleiner Flughafenhalle: Fußböden, Decken und Wände aus Holz, Leute, die wartend auf alten Sofas und Sesseln sitzen, drei Mädchen in Stewardess-Uniform hinter einem Tresen, Monitore über den Köpfen, dahinter Poster mit verführerischen Landschaften. Er stürzt zu einem der Mädchen, deutet durchs Fenster auf das Wasserflugzeug mit laufendem Propeller und sagt: »Ich muss unbedingt diese Maschine erwischen, es geht um Leben und Tod!«
    Das Mädchen wirkt leicht beunruhigt von seinen Worten, schüttelt aber, ohne hinauszusehen, den Kopf: »Das ist von der anderen Gesellschaft, und außerdem ist es schon gestartet.«
    »Gestartet wohin?« Er hat die Augen auf den Propeller gerichtet, der sich jetzt schneller dreht und die Wasseroberfläche in Schwingung versetzt.
    »Victoria«, antwortet das
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