Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er
Autoren: Andrea de Carlo
Vom Netzwerk:
verschlechtert sich, wenn es so weitergeht, müssen wir umkehren.«
    »Soll das ein Witz sein?!« In seiner aufflackernden Verzweiflung schnellt er nach vorn, während seine mentalen Bilder von Annäherung sich in Bilder von Entfernung verwandeln, wie durch ein plötzlich herumgedrehtes Fernrohr.
    Auch der Typ links von ihm regt sich auf: »Das meinen Sie doch wohl nicht ernst!«
    »Man sieht doch noch ausgezeichnet!«, sagt Deserti in der Hoffung, eine Revolte an Bord zu entfachen.
    »Sind Sie Pilot?«, fragt der Pilot erbost. Er nimmt die Sonnenbrille ab: Seine Augen sind grau, kalt, abgestumpft.
    »Nein«, sagt er. »Aber ich sehe, dass man noch fliegen kann!«
    Mindestens die Hälfte der anderen Passagiere äußert sich ähnlich: mit lauter Stimme, mit Gesten und Kopfbewegungen.
    Der Pilot sagt ins Mikrophon: »Dieses Flugzeug ist nicht für Instrumentenflug ausgerüstet. Wenn die Sicht schlechter wird, kehren wir um, Punkt.« Er hält aber weiter den Kurs und schaut hinaus, verrenkt den Hals in alle Richtungen, verringert die Flughöhe. Die Sicht wird etwas besser: Sie liegen unterhalb der Wolken und der Nebelbank, nur etwa zwanzig Meter über der grauen Wasseroberfläche, die sich in kleinen Wellen bricht.
    Deserti löst die Stirn nicht vom Fenster; sein Atem geht stoßweise, alle seine Muskeln sind vor Angst verkrampft und seine Nerven zum Zerreißen gespannt von der Vorstellung, dass die Sicht sich von einem Moment zum anderen wieder verschlechtern und der Pilot umkehren und zurückfliegen könnte.
    Doch die Sicht verschlechtert sich nicht, und der Pilot kehrt nicht um; nach einer langen Strecke durch Grau und Weiß überfliegen sie vom Wind gebeutelt den bebauten Teil einer Insel, einen Teil einer Stadt mit Straßen, Häusern und Autos. Unter heftigerem Rütteln kurven sie im Halbkreis über eine Bucht, zuletzt sinken sie, bis die Schwimmer beinahe das Wasser berühren, fahren viel zu langsam eine viel zu lange Strecke geradeaus, legen viel zu langsam am Landungssteg an.
    Er löst den Sicherheitsgurt, springt auf, noch bevor der Pilot die Türe geöffnet hat. Endlich steht er dann auf der schwimmenden Mole, läuft die Rampe hinauf, sieht sich auf dem Kai um, schaut auf den parallelen Kai der Konkurrenzgesellschaft. Doch die Passagiere des vorigen Flugs sind schon weg, nur zwei oder drei sind mit ihrem Rucksack oder Rollenkoffer noch weiter oben zu sehen, auf der Straße, die an der Bucht entlangführt.
    Im Gegenwind steigt er zu der Straße hinauf, blickt suchend in alle Richtungen. Jedes Detail, das er wahrnimmt, ist von entsetzlicher Bedeutungslosigkeit: Paare und Gruppen von Touristen auf Tagesausflug, die Hütchen, die Fotoapparate, die Schuhe, die Anoraks, die Schilder, die Autos, die Busse, ein langgestrecktes Gebäude, das wie ein auf die Wiese gelegter Königspalast aussieht, die Silhouette der Stadt weiter vorn, die Boote in einem kleinen Hafen. Er geht weiter, aber der Strom, unter dem er die ganze Zeit gestanden hatte, lässt jetzt nach, sosehr er sich auch anstrengt, ihn lebendig zu halten. Die Enttäuschung, die seine Gedanken durchdringt, beeinträchtigt nun auch seine Bewegungen: Er wird langsamer, beschleunigt wieder, verlangsamt erneut, kämpft gegen den Sinnverlust, der seine Schritte immer schwerfälliger macht. Sein Blick bleibt wahllos an allem hängen, gleitet weiter, lässt sich blenden und verwirren.
    Vom Terminal der Wasserflugzeuge kommt rasch ein Typ angelaufen, zieht sich die Kapuze des im Wind knatternden Anoraks über den Kopf und sagt: »Erst so eilig, und jetzt immer noch hier?«
    Er braucht mehrere Sekunden, bis er den Piloten des Wasserflugzeugs erkennt, hebt die Hand, als der andere schon etliche Meter weiter ist, aber seine Geste ist matt und bedeutungslos wie alles Übrige. Der Wind weht in Böen vom Meer herauf. Seine Augen sehen immer unschärfer; die Bilder, die sie wahrnehmen, verflüchtigen sich wie Luftspiegelungen im grauen Licht.
    Jetzt beginnt es auch noch zu regnen: Spärliche Tropfen platschen ihm auf den Kopf wie falsche Eindrücke. Er denkt nicht daran, sich irgendwo unterzustellen, es interessiert ihn nicht. Er steigt die Stufen zum betonierten Kai des Jachthafens hinunter, einfach, um irgendwohin zu laufen. Er betrachtet die Aluminium- und Holzmasten der Boote, die im Wasser schwanken, einige menschliche Gestalten, die an einer weiter vorn gelegenen Mole hantieren. Er liest die Namen am Heck der Schiffe, mit ihrer Beschwörung von erfüllten oder noch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher