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Tod Auf Der Warteliste

Tod Auf Der Warteliste

Titel: Tod Auf Der Warteliste
Autoren: Veit Heinichen
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Aufbruch
    Ein eisiger Ostwind fegte über die Hafenstadt am Schwarzen Meer. Anfang März hatte es in Constañta noch einmal heftig geschneit, und der Schnee knirschte unter den Sohlen. Er trat von einem Bein auf das andere, um sich warm zu halten. Wenn er erst einmal an Bord des Frachters war, gab es hoffentlich einen geschützten Platz, an dem er bis Istanbul verweilen konnte. Später dann, auf dem anderen Schiff, das ihn nach Triest bringen sollte, würde er, wie man ihm versprochen hatte, ohnehin besser untergebracht werden. Zuvor aber mußte er ohne Paß aus Rumänien ausreisen.
    Es war kein großes Problem gewesen, unbemerkt auf das hellbeleuchtete Freigelände des Hafens zu kommen. Im Schatten der haushoch aufgestapelten Container warteten sie schweigend auf das Signal, das Punkt zwanzig Uhr dreißig von dem Schiff an der Mole kommen sollte, auf das hin Dimitrescu so schnell er konnte das Fallreep hinaufrennen mußte. Am Ende der Reise würde er zehntausend Dollar bekommen – abzüglich der Kosten seines Begleiters, der bereits vom Vorschuß fünfhundert einbehalten hatte. Zehnmal soviel wie das durchschnittliche Monatseinkommen, das man in dieser Zeit in Rumänien verdienen konnte – wenn man Arbeit hatte.
    Sie hatten sich erst vor kurzem kennengelernt. Der Vermittler, ein öliger Typ in einem billigen Anzug, hatte nicht lange gebraucht, um ihn von dem Geschäft, wie er es nannte, zu überzeugen. Er wußte nicht, daß Dimitrescu schon seit Tagen nach ihm gesucht hatte. Eine Niere, so hatte der Vermittler erklärt, sei belanglos für einen Menschen, der über zwei gesunde verfügt, aber unendlich wertvoll für einen anderen, der an zwei kranken leidet. Die Ermittlung der Blutgruppe und der immunologische Test waren schnell gemacht. Der Vermittler war auf Dimitrescu angesetzt worden, nachdem dessen Zwillingsbruder Vasile von seiner Reise nicht zurückgekommen war.
    Die Familie hatte Vasile schon längst zurückerwartet und jeden Tag gehofft, er würde endlich wieder den Treppenaufgang des zugigen und schlechtbeheizten Plattenbaus am Stadtrand von Constañta heraufkommen, ein bißchen müde vielleicht, aber lachend, mit einem Bündel Dollarscheine in der Hand in die Wohnung treten, in der die beiden Familien der Zwillinge wohnten und aus der er seine Frau und die drei Kinder endlich herausholen wollte. Jedesmal, wenn sie Schritte im Treppenhaus hörten, flackerte Hoffnung auf, und die anschließende Sorge, daß ihm etwas zugestoßen war, wurde täglich größer. Nie zuvor hatte er sie ohne Nachricht gelassen, wenn er länger fort war, um Geld in einer anderen Stadt zu verdienen. Vasile hatte nicht einmal seiner Frau verraten, warum er weggefahren war. Nur Dimitrescu hatte er eingeweiht. Dessen Versuch, ihm die Sache auszureden, scheiterte. Der Verdienst war hoch, und Vasile sah darin den einzigen Ausweg, der desaströsen Situation zu entkommen. Viele hatten vor ihm die Reise nach Istanbul gemacht, wo die Eingriffe vorgenommen wurden. Dort gab es eine illegale Klinik neben der anderen, die häufig ihren Standort wechselten, bevor die nicht besonders aktiven Behörden sie entdecken und ausheben konnten. Das Geschäft war lukrativ, und gutausgebildete, skrupellose Spezialisten versorgten die Kundschaft aus dem Westen oder dem Nahen Osten schnell und zuverlässig.
    Noch bevor Dimitrescu den Mann fand, der Vasile vermittelt hatte, kam die schreckliche Nachricht. Eines Abends tauchte Cezar auf, ein entfernter Verwandter, der als Fernfahrer sein Geld verdiente und viel in der Welt herumkam. Sie hatten ihn lange nicht gesehen, und zunächst wußte keiner, was er wollte, doch irgendwann zog er ein zerknicktes Foto aus der Jackentasche und legte es auf den Tisch. Vasiles Frau schlug die Hände vors Gesicht und stieß einen langen klagenden Schrei aus. Cezar erzählte, daß ein Polizist in Triest ihm das Foto gegeben habe. Vasile war tot. Dimitrescus Hände zitterten, als er das Foto an sich nahm und die Karte des Polizisten, die der Verwandte ihm gab.
     
    Noch eine knappe Viertelstunde mußten sie sich zwischen den Containerreihen verborgen halten. Dimitrescu kramte eine Packung Zigaretten aus der Tasche seiner Jacke aus grobem Filz und bot dem Vermittler eine an. Das ist nur fair, dachte er. Sein Entschluß stand fest. Er gab dem anderen Feuer, der ihm gleich wieder den Rücken zudrehte und zum Schiff hinüberschaute. Sein Atem, vermischt mit dem Rauch, stand in der eiskalten Luft.
    Dimitrescu zog die Drahtschlinge mit
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