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Sie und Er

Sie und Er

Titel: Sie und Er
Autoren: Andrea de Carlo
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Backsteinmauer umschlossen ist. Er weist ihn auf eine Stelle am Dach hin, wo eine Art Türmchen eingelassen ist, das die Asche einer Großtante enthält, und behauptet, er stehe mit ihr im ständigen Dialog, so als ob sie noch lebte. Jetzt zum Beispiel wendet er sich an sie und sagt so etwas wie »Beschütze diesen neuen Mieter und stehe ihm bei, solange er hier wohnt«, doch er spricht zu leise, als dass man es hören könnte. Dann treten sie ins Haus, gerade noch rechtzeitig, bevor einige Brüder und Schwestern des Besitzers eintreffen. Es ist ein Familienfest, vielleicht ein Geburtstag, das ist nicht klar. Die Männer ähneln sich alle auf beeindruckende Weise, ihre Gesichter sind feinste Variationen desselben Themas. Die Frauen dagegen sehen anders aus als die Brüder und sind auch untereinander verschieden: Wüsste man nicht, dass sie Schwestern sind, könnte man meinen, dass sie gar nicht zur selben Familie gehören. Er begrüßt alle, schüttelt Hände, lächelt, und die Sache kostet ihn zermürbende Mühe, weil er in zu viele Gesichter schauen, sich zu viele Namen merken, zu vielen Stimmen zuhören muss.
     
    So schlüpft er hinaus, sobald er sich unbeobachtet glaubt, durchquert ein Wohnzimmer, wo einige Kinder herumlümmeln und Karten spielen, und geht in den Garten hinter dem Haus. Da ist ein kleiner künstlicher See, grünlich und trübe, auf dem ein altes Buch mit blauem Leineneinband und aufgequollenen gelben Seiten treibt. Er nähert sich und sieht, dass zwei Eichhörnchen mit erstaunlicher Gewandtheit im stehenden Wasser mal dahin, mal dorthin schwimmen und dabei das Buch vor sich herschieben. Auch ein paar Frösche und Molche und andere Sumpftiere huschen auf und unter der Oberfläche herum und stupsen dabei abwechselnd mit den Eichhörnchen das Buch an, man weiß nicht, ob zum Spiel oder um es dann fressen oder zerstören zu können. Jedenfalls ist es eine bedrückende Szene; der kleine Garten und das Haus verstärken seine Beklemmung noch. Er fragt sich, warum er denn je hierherwollte und wie lange er wohl bleiben muss und wozu. In seiner wachsenden Verzweiflung möchte er schreien und treten und die Luft mit Fäusten bearbeiten.
    Dann spürt er einen heftigen Schmerz an der Hand, doch der fühlt sich ganz anders an als die Empfindungen von zuvor, er durchschneidet seine Gedanken. Mit einem hastigen Ruck dreht er sich um, öffnet die Augen und findet sich in seiner Zelle des Benediktinerklosters wieder, die in das Zimmer eines Hotel de Charme umgewandelt wurde und ganz schlicht sein sollte, aber eher grauenhaft ist. Erschrocken setzt er sich auf, betrachtet seine rechte Hand: Die Fingerknöchel sind aufgeschürft und gerötet und blutverklebt. Die Heizung ist aus, seine leichte Baumwollkleidung ist für das Klima unpassend und zudem ganz zerknittert, weil er darin geschlafen hat, jeder Gedanke ist zu drei Viertel verstümmelt, alles ohne Zusammenhang. Die Landschaft, die er sieht, als er aufsteht und die Stirn an die Fensterscheibe legt, ist vollgesogen mit dem Regen, der seit Tagen andauert. Der Sommer hatte gerade erst begonnen, als er sich vor zwei Wochen scheinbar endgültig zurückzog und eine Art tropische Kälte hinterließ, Hügel und Berge voller tropfnassem Grün, zwischen denen man ganz hinten in der Ferne, wenn man die Augen anstrengt, gerade noch ein Stückchen graublaues Meer erkennen kann. Auf dem Fußboden liegen überall abgerissene, zerknüllte Blätter und zwei umgedrehte kleine Lautsprecher mit usb-Stecker; auf dem Holztisch an der Wand liegt ein Füller, in dem fast keine Tinte mehr ist, ein Handy mit herausgefallener Batterie, eine dreiviertelleere Wodkaflasche, eine ganz leere Weinflasche, ein Glas, in dem der Bodensatz dunkelrot angetrocknet ist, wie das Blut an seinen Fingerknöcheln. Daneben, auf den achteckigen Terrakottafliesen des Fußbodens, der von Jahrhunderten beklommener Schritte abgeschliffen ist, sind noch mehr Blätter mit lustlosen Wortkombinationen ohne Inspiration verstreut. In einer Ecke ruhen die Reste eines gegen die Wand geschleuderten und dann bis zur Unkenntlichkeit zertrampelten Computers: verbogenes Aluminium, zersplittertes Glas, Leiterplatten und Elektrokabel, die heraushängen wie das Gedärm eines außerirdischen Tieres.
     
    Sie ist schon so oft an dieser endlosen Mauer entlanggejoggt
     
    Sie ist schon so oft an dieser endlosen Mauer entlanggejoggt und weiß immer noch nicht, was sich auf der anderen Seite verbirgt, verfallende Industriehallen
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