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Erlösung

Erlösung

Titel: Erlösung
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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Prolog
    Der dritte Morgen war angebrochen, und inzwischen hing der Geruch von Teer und Tang schon in der Kleidung. Er hörte das grießige Eis, das unter den Planken des Bootshauses schwerfällig gegen die Pfähle schwappte. Erinnerungen an Tage wurden wach, als alles noch gut war.
    Er hob seinen Oberkörper von dem Lager aus Papierabfällen und zog sich so weit nach vorn, dass er das Gesicht seines kleinen Bruders erkennen konnte. Noch im Schlaf wirkte er verfroren und gequält.
    Bald würde er aufwachen und sich verwirrt umschauen. Dann würde er die straffen Lederriemen an den Handgelenken und um den Leib spüren und das Klirren der Kette hören, die ihn festhielt. Durch die Ritzen zwischen den geteerten Brettern würde er sehen, wie das Tageslicht und der Schnee darum kämpften, zu ihnen vorzudringen. Und dann würde er anfangen zu beten.
    Unzählige Male schon hatte er die Verzweiflung in den Augen seines Bruders aufflackern sehen. Halb erstickt hinter dem Klebeband über seinem Mund hatte er immer wieder um Jehovas Gnade gewinselt.
    Aber Jehova würdigte sie keines Blickes, das wussten sie beide, denn sie hatten von dem Blut getrunken. Von dem Blut, das der Wärter in ihre Wassergläser getröpfelt hatte. Und dann hatte er sie gezwungen, daraus zu trinken. Erst danach hatte er ihnen gesagt, was sie da getrunken hatten: Wasser mit dem verbotenen Blut. Jetzt waren sie auf ewig verdammt. Seither brannte die Scham in ihnen noch stärker als der Durst.
    Was wird er mit uns machen? Was glaubst du?, hatten dieängstlichen Augen seines Bruders gefragt. Aber woher sollte er das wissen? Instinktiv fühlte er, dass bald alles vorbei sein würde.
    Er lehnte sich zurück, und seine Augen suchten in dem schwachen Licht noch einmal den ganzen Raum ab. Er ließ den Blick an den Dachsparren und den vielen Spinnweben entlangwandern. Prägte sich alle Ecken und Kanten und Astvorsprünge ein. Registrierte die morschen Paddel und die Ruder, die hinter den Verstrebungen steckten, das verrottete Fischernetz, das schon vor langer Zeit seinen letzten Fang eingeholt hatte.
    Dann fiel sein Blick auf die Flasche hinter ihm. Ein Sonnenstrahl war über das bläuliche Glas geglitten und hatte es aufblinken lassen.
    Die Flasche war so nahe, und doch war es so schwer, an sie heranzukommen. Sie steckte eingekeilt zwischen den groben Planken, aus denen der Boden gezimmert war.
    Er steckte die Finger zwischen die Bretter und versuchte, den Flaschenhals zu erreichen. Seine Hände waren steif gefroren vor Kälte. Wenn er die Flasche losbekam, würde er sie zerschlagen und mit den Scherben die Lederriemen an ihren Handgelenken aufscheuern. Sobald sie nachgaben, könnte er mit seinen tauben Händen die Schnalle im Rücken öffnen, das Klebeband vom Mund reißen und die Riemen vom Oberkörper und den Schenkeln abstreifen. Und sobald die Kette, die an den Lederriemen hing, ihn nicht länger festhielt, würde er losstürzen und seinen kleinen Bruder befreien. Ihn an sich ziehen und so lange im Arm halten, bis ihre Körper nicht mehr zitterten.
    Anschließend würde er alle Kraft zusammennehmen und mit der Glasscherbe das Holz rings um die Tür bearbeiten. Versuchen, die Bretter auszuhöhlen, an denen die Scharniere saßen. Und sollte das Entsetzliche geschehen und das Auto kommen, bevor er fertig war, dann würde er den Mann erwarten. Hinter der Tür würde er ihm auflauern, in der Hand den zerbrochenen Flaschenhals. Ja, er würde es tun.
    Er lehnte sich vor, faltete seine eiskalten Hände auf dem Rücken und bat um Vergebung für seine bösen Gedanken.
    Aber dann kratzte und scharrte er weiter, um die Flasche freizubekommen. Kratzte und scharrte, bis sie sich schließlich so weit lockerte, dass er den Hals zu fassen bekam.
    Er spitzte die Ohren.
    War das ein Motor? Ja, eindeutig. Es klang wie der starke Motor eines großen Wagens. Aber kam das Auto näher oder fuhr es nur irgendwo da oben vorbei?
    Das Brummen nahm zu, und er begann so fieberhaft an dem Flaschenhals zu zerren, dass seine Fingergelenke knackten. Dann wurde das Geräusch leiser. Waren das Windräder, die dort draußen rauschten und rumpelten?
    Seine warme Atemluft bildete Dampfwolken vor seinem Gesicht. Im Moment fürchtete er sich eigentlich nicht. Der Gedanke an Jehova und seine Gnadengeschenke gab ihm Kraft.
    Er biss die Zähne zusammen und machte weiter.
    Als er die Flasche endlich losbekommen hatte, schlug er sie so fest auf die Bohlen, dass sein Bruder mit einem Ruck den Kopf hob
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