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Erlösung

Erlösung

Titel: Erlösung
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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oder weil Hardys gelähmter Körper permanent übel riechende Gase verströmte – das alles war nicht der Grund. Nein, es war dieses konstant schlechte Gewissen, das alles veränderte. Dass Carls Beine ihre Funktion erfüllten und er, wann immer ihm der Sinn danach stand, abhauen konnte. Und zu diesem schlechten Gewissen gesellte sich das Gefühl, etwas wiedergutmachen zu müssen. Für Hardy da sein zu müssen. Etwas für diesen gelähmten Mann tun zu müssen.
    »Nun mal ganz ruhig«, war ihm Hardy zuvorgekommen, als sie vor ein paar Monaten hin und her überlegt hatten, welche Vor- und Nachteile es hätte, wenn sie ihn aus der Klinik für Wirbelsäulenverletzungen in Hornbæk zu Carl nach Hause holten. »Hier oben vergeht durchaus mal ’ne ganze Woche, ohne dass ich dich sehe. Glaubst du nicht, dass ich da deine Aufmerksamkeit ein paar Stunden entbehren kann, wenn ich zu dir nach Hause ziehe?«
    Aber die Sache war doch die: Hardy war trotzdem immer da, selbst wenn er so still vor sich hinschlummerte wie gerade jetzt. Physisch. In Gedanken. Bei der Alltagsplanung. In allen Worten, die plötzlich viel sorgfältiger überlegt sein wollten. Das war anstrengend. Dabei sollte Zuhausesein doch eigentlich nicht anstrengend sein, verdammt noch mal.
    Hinzu kamen all die praktischen Details. Wäsche waschen,Bettzeug wechseln, sich mit Hardys gewaltigem Körper herumplagen. Der Einkauf, der Kontakt mit den Krankenschwestern und Ämtern. Essen kochen. Na ja, um das meiste kümmerte sich Morten. Aber das war eben nicht alles.
    »Hast du gut geschlafen, altes Haus?«, fragte er vorsichtig, als er sich Hardys Lager näherte.
    Sein ehemaliger Kollege öffnete die Augen und versuchte zu lächeln. »Tja, so ist das, Carl, der Urlaub ist um, die Arbeit ruft. Die letzten zwei Wochen sind wie im Flug vergangen. Aber Morten und ich werden das schon schaffen. Hauptsache, du vergisst nicht, die Kumpels von mir zu grüßen, klar?«
    Carl nickte. Es musste verdammt hart sein für Hardy, verdammt hart. Wenn man doch nur einen Tag mit ihm tauschen könnte.
    Nur einen einzigen Tag für Hardy.
     
    Abgesehen von den Wachhabenden in ihrem Käfig sah Carl keine Menschenseele. Der Hof des Präsidiums war wie leer gefegt und der Säulengang wintergrau und abweisend.
    »Was zum Teufel ist denn hier los?«, rief er, als er kurz darauf den Kellerflur entlangging.
    Er hatte einen lautstarken Empfang erwartet, den Geruch von Assads Pfefferminzkleister oder zumindest eine von Roses gepfiffenen Versionen der großen Klassiker. Aber auch hier unten war alles wie ausgestorben. Waren die in den vierzehn Tagen, die er sich für Hardys Umzug freigenommen hatte, einfach alle von Bord gegangen?
    Er betrat Assads Kämmerchen und sah sich irritiert um. Keine Fotos von alten Tanten, kein Gebetsteppich, keine Döschen mit klebrigem Gebäck. Sogar die Neonröhren an der Decke waren ausgeschaltet.
    Er ging über den Flur und machte in seinem Büro Licht. Sein sicheres Terrain, bis zu dem das Rauchverbot nicht vorgedrungen war. Der Ort, wo er immerhin schon drei Fällegelöst hatte – und erst zwei hatte aufgeben müssen. Wo alle alten Fälle, das Arbeitsgebiet des Sonderdezernats Q, in drei zierlichen Aktenstapeln überschaubar und ordentlich auf seinem Schreibtisch gelegen hatten, vorsortiert nach seinem unfehlbaren System.
    Abrupt blieb er stehen. Der blank polierte Schreibtisch war nicht wiederzuerkennen. Kein Staubkörnchen. Kein einziger dicht beschriebener DIN-A 4-Bogen , auf den man seine müden Beine legen und den man anschließend in den Papierkorb knüllen konnte. Kurz gesagt: Alles war wie leer gefegt.
    »Rose!«, brüllte er mit so viel Nachdruck, wie er aufbringen konnte.
    Aber seine Stimme verhallte in den Kellergemächern.
    Er war der letzte Mohikaner, Kevin allein zu Haus, der Hahn ohne Hühnerhof. Der König, der für ein Pferd sein Königreich hergeben würde.
    Er griff nach dem Telefon und gab die Nummer von Lis ein, oben in der Mordkommission.
    Nach fünfundzwanzig Sekunden wurde abgenommen.
    »Dezernat A, Sekretariat«, hörte er die Stimme von der Sørensen – der Kollegin, die Carl von allen wohl am feindlichsten gesonnen war.
    »Frau Sørensen«, säuselte er. »Carl Mørck hier. Ich sitze mutterseelenallein hier unten. Was ist los? Wissen Sie zufällig, wo Assad und Rose sind?«
    Es war noch keine Millisekunde vergangen, da hatte die blöde Kuh den Hörer aufgeknallt.
    Er stand auf und nahm Kurs auf Roses Domizil ein Stück weiter den Gang
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