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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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Blumensträußen stinken mußte, mit denen man sie seit ihrer Ankunft eindeckte, einige noch in der Verpackung, irgendwo abgestellt, auf Stühlen oder auf dem Boden, und der prächtige Orchideenstrauß, den sie bei unserem Eintreffen bereits im Zimmer vorgefunden hatte, sofort las sie die beigefügte Visitenkarte mit dem Namen von Yamada Kenji (den sie auf der Stelle verflucht und die Karte zwischen ihren Fingern zerknickt hatte in einem Anflug von Sadismus als Strafe dafür, daß er uns nicht am Flughafen abgeholt hatte). Das Wasser dürfte mittlerweile in der Vase faulig geworden sein, die Orchideen eingegangen und verwelkt, der Teppich übersät mit Tausenden purpurfarbener und violetter Körnchen, die ein feines Sieb aus winzigen Teilchen bildeten, das Marie wohl immer dann, wenn sie mit den Füßen darauf trat, zu einer vergänglichen Staubwolke auffliegen ließ.
    Ich schwieg noch immer in der Kabine, und Marie erklärte mir, daß ihr Hotelzimmer entweder überheizt oder eiskalt war, seit langem schon hatte sie es aufgegeben, den eigenwilligen Thermostat begreifen zu wollen, der die Temperatur im Zimmer regulierte, sie zog sich an und aus je nach Lust und Laune des funktionierenden oder aussetzenden Instruments, fügte hinzu, daß sie manchmal nachts schlotternd im Zimmer aufwachte, die Heizung war ausgeschaltet und sie außerstande, sie wieder in Gang zu setzen, daß sie dann alle Schränke öffnete und Woll- und Daunendecken herausholte, die sie wahllos aufs Bett schmiß, denn sie erfror förmlich um drei Uhr nachts im Zimmer, sie mußte Pullover, Schal und Socken anziehen, bevor sie sich wieder hinlegte, und daß zu anderen Zeiten das Zimmer ein Dampfbad war und sie gezwungen, sich sofort nach dem Eintreten zu entkleiden, ihre Bluse halb aufzuknöpfen, bevor sie ihre Sachen auf den Tisch legte, sich duschte und mit bloßen Füßen auf dem Teppich herumlief in ihrem großen weißen Bademantel aus Frottee mit den Insignien des Hotels, die Brust bald schon wieder schweißglänzend, die Schenkel und Achselhöhlen feucht in der mit Feuchtigkeit geladenen Luft, und immer ein Ding der Unmöglichkeit, die Fenster zu öffnen, bis sie am Ende die Hitze einfach nicht mehr aushielt und sogar den Bademantel auszog und sich völlig nackt im Zimmer vorfand, in der vom schweren Geruch der Blumen und abgestorbenen Orchideen geschwängerten Luft wie eine Verrückte Kreise drehend. Sie ging zum Fenster, zog dabei an der Zigarette, deren Ende rötlich glühte im Halbdämmer, sie blieb dort reglos stehen und betrachtete die vor ihr in der Dunkelheit blinkenden Neonlichter der Stadt. Nackt vor der Fensterfront im 16. Stockwerk des Hotels stehend, während über ihren Körper in abgehacktem Rhythmus rote Lichtblitze und dramatische elektrische Reflexe huschten, die ihrer nackten Haut zebrahafte Streifen verliehen, las sie das Fax nochmals durch, das ich ihr geschickt hatte, und setzte sich dann an den Tisch, um einen Brief anzufangen, sie begann vor der großen Fensterfront zu schreiben, die den Blick auf die Stadt freigab, sie schrieb mir einige Worte auf einem weißen Blatt Papier mit dem Briefkopf des Hotels, sie schrieb mir einen Liebesbrief. Ich habe dir einen Brief geschrieben, Liebster, sagte sie.
    Ich trat aus der Kabine, aufgewühlt, beklommen, unendlich glücklich und unglücklich. Fünf Minuten mir ihr, und ich wußte nicht mehr, wer ich war, sie verdrehte mir völlig den Kopf, sie nahm mich an der Hand und ließ mich um mich selbst Pirouetten drehen, bis meine Weltsicht zusammengebrochen und meine Instrumente durcheinandergeraten und unbrauchbar geworden waren, alle meine Anhaltspunkte waren ein einziges wirres Knäuel, ich marschierte in der eisigen Luft der Nacht und wußte nicht, wohin, ich sah das schwarze Wasser auf der Oberfläche des Kanals glänzen und fühlte mich mitgerissen von widersprüchlichen, ins Maßlose gesteigerten irrationalen Regungen. Ich hatte mich auf eine Bank am Uferweg gesetzt und die Salzsäure aus der Manteltasche geholt, nachdenklich betrachtete ich die kleine Flasche in meinen Händen. Ich versuchte, der Gewalt der Gefühle, die mich zu Marie trugen, zu widerstehen, aber natürlich war es bereits zu spät, ihr Charme war erneut in Aktion getreten, und ich fühlte, daß ich mich wieder einmal in die Spirale hineinziehen lassen würde, diese Spirale wenn nicht der inneren Zerrissenheit und der Dramen, so doch der Leidenschaft.
    Noch am selben Abend fuhr ich zurück nach Tokio (ich holte
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