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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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meine Sachen bei Bernard und hinterließ gut sichtbar einige erläuternde Worte auf dem Küchentisch).
    Die Luft war rein, die Nacht klar. Das Taxi raste Richtung Bahnhof, auf einer tristen langen Geraden ohne irgendein Geschäft, die im Dunkeln an den Mauern des kaiserlichen Palasts entlanglief. Ich saß hinten im Taxi, neben mir auf dem Sitz meine Reisetasche, und dachte an nichts. Das Taxi setzte mich am Bahnhof vor dem Eingang zu den Shinkansen ab, und ich kaufte rasch eine Fahrkarte nach Tokio. Nachdem ich die Bahnsteigsperre passiert hatte, blickte ich hoch zur Tafel mit den Abfahrtszeiten, die abwechselnd Angaben auf japanisch und englisch anzeigten, die elektronischen Buchstaben und Ziffern kamen in sich überblendender Abfolge und kündigten die Nummern der Züge und Abfahrtszeiten an, und mir wurde klar, daß ich in vier Minuten einen Zug auf Bahnsteig 3 nehmen konnte. Hastig eilte ich durch die Bahnhofshalle, rannte auf den Rolltreppen und war etwa zur selben Zeit auf dem Bahnsteig wie der Zug, der von Hakata kommend gerade in den Bahnhof einfuhr. Der Zug war brechend voll, ich marschierte die Wagen entlang und konnte, als ich mein Gesicht gegen die Scheiben der winzigen Fenster preßte, die den weißen bauchigen Rumpf des Shinkansen durchschnitten, drinnen keinen einzigen freien Platz entdecken. Ich lief weiter vor bis fast zum Kopf des Zuges, und als ich merkte, daß der Bahnsteig immer leerer wurde, spürte ich, daß die Abfahrt kurz bevorstand, und sprang rasch in einen Wagen. Der Zug fuhr los, verließ langsam den Bahnhof – und noch an der Tür stehend, gegen die Scheibe gelehnt, schaute ich, wie die Hügel Kiotos hinter mir in der Nacht verschwanden.
    Ich hatte nur in einem Raucherabteil einen Platz gefunden, und nach einigen Minuten überkam mich ein Unwohlsein, ich schwitzte auf meinem Sitz, mir war schlecht, ich fühlte mich wie gerädert und kotzübel. Ich stand auf und ging zur Toilette, die ich hinter mir abschloß, und bevor ich mich auch nur über die Schüssel gebeugt hatte, spürte ich auch schon, wie meine Brust sich hob und von einem heftigen Brechreiz gepackt wurde. Mir war, als müßte ich mich übergeben, aber nichts drang aus meinem Rachen außer einem dünnen Faden Speichel, der an der Zunge hängenblieb. Die Stirn in Schweiß und in den Gliedern kraftlos, ging ich mühsam in die Hocke, behindert durch meinen langen schwarzgrauenen Mantel, und blieb so, am Rand einer Bewußtlosigkeit, die Augen ins Leere stierend, dabei unwillentlich weinend, Tränen bildeten sich seitlich an den Lidern. Ich versuchte mich zu übergeben, aber nichts kam, und schließlich steckte ich einen Finger in den Hals, um es zu provozieren. Da erbrach ich langsam, mühsam, schwer einige Tropfen Gallenflüssigkeit. Es war äußerst schmerzhaft, und ich fühlte mich sterben, ich fühlte die körperliche konkrete Nähe des Todes beim Berühren des kalten Metalls der Kloschüssel, ich fühlte, wie mich die Kräfte verließen, doch wenn auch mein Körper schlapp machte und bereit war, vor der Kloschüssel zu Boden zu sinken, mein Geist trotzte dem körperlichen Verfall, und wie ein Orchester, das noch beim Sinken des Schiffs unerschütterlich weiterspielt, hatte ich begonnen, ganz sachte, langsam und abgehackt, repetitiv und absurd einen alten Song der Beatles im Geiste zu summen, seine Melodie in einem abgerissenen und herzzerreißenden inneren Murmeln abzuspielen: »All you need is love – love – love is all you need« , und außerstande, den Song fortzusetzen, hob sich meine Brust in einem neuen Krampfanfall, und sehr bitter schmeckendes Erbrochenes landete in der Kloschüssel. Doch ich gab nicht auf, beharrlich sang ich, kniend und innerlich triumphierend, im Klo weiter, mit trockenem Mund, die entkräfteten Lippen öffneten sich, und ich murmelte mit jammernder und siegreicher Stimme über der Kloschüssel: »All you need is love — love — love is all you need« , in diesem seltsam stillen Zug, der mit dreihundert Stundenkilometern Tokio entgegenraste.
    Ich kam spätabends in Tokio an, kurz vor halb elf. Der Shinkansen verringerte beim Nahen des Bahnhofs seine Geschwindigkeit, und langsam tauchten die Viertel von Shimbashi und Ginza in den Fenstern auf, illuminiert von Tausenden von Hotellichtern und Werbeplakaten, die in der Dunkelheit blinkten. Kaum aus dem Zug, begab ich mich auch sofort auf die Suche nach einem Telephon. Ich fand einen öffentlichen Fernsprecher auf dem Bahnsteig und rief Marie im
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