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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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Küche, und da ich wähnte, allein im Haus zu sein, hatte ich zum Frühstücken das Zimmer verlassen, mir dabei nachlässig die Eier in der ausgebleichten Boxershorts zurechtrückend (wahrlich, welch ein Mann der Tat). Ein breiter Sonnenstrahl drang in die Küche, überflutete den Fußboden und ließ mich zum Schutz der Augen instinktiv die Hand zur Stirn heben, als ich, noch auf der Schwelle stehend, Bernard mit nacktem Oberkörper vor dem Waschbecken sah, in beiger Hose und mit einem weißen Badetuch um den Hals, an den Füßen Sandalen, die Wangen voll Schaum, er rasierte sich sorgfältig am Waschbecken und schaute dabei in einen auf einer Ablage stehenden winzigen Spiegel, neben der Waschmaschine. Er begrüßte mich leise auf japanisch, ohne sich umzudrehen, rasierte sich nur weiter penibel über der Oberlippe und sagte dann, nachdem ich schweigend auf der Stufe stehenblieb, auf französisch, daß er diesen Abend nicht zu Hause essen würde, daß er nochmals ausginge. Es ist schön draußen, hast du gesehen, sagte er. Schon lange? sagte ich. Er hielt inne. Er drehte sich um und betrachtete mich, eingehend, den Rasierer in der Hand, das Handtuch um den Hals, das Gesicht schaumweiß, eine Wange ja, eine Wange nein. Ich hatte mich auf die Küchenstufen gesetzt, mit bloßen Füßen, in Unterhose, und ließ die Fingerspitzen über die Wadenhaare streichen. Seit diesem Morgen, sagte er und fing wieder an, sich nachdenklich zu rasieren (ich weiß nicht, ob er begriffen hatte, daß ich das Haus seit dem vorgestrigen Abend nicht verlassen hatte).
    Als ich das Haus das erste Mal verließ, drehte ich mich fortwährend auf der Straße um, aus Angst, es nicht wiederzufinden, ich versuchte, visuelle Anhaltspunkte zu setzen, ich sondierte Telegraphenmasten, ein in Bau befindliches Haus, den Ausschnitt einer Straße, die in der Ferne an einer von einem Geländer gesäumten Kreuzung eine Biegung machte, das Schild eines Toshiba-Ladens. Nachdem ich hinter mir die Eingangstür ins Schloß hatte gleiten lassen, war ich lange auf der Straße vor dem Haus stehengeblieben und hatte es angeschaut, nichts unterschied es von den anderen Häusern, nichts an seinem Äußeren zeichnete es besonders aus, weder Name noch Nummer, noch Klingel, noch Briefkasten. Für meinen mit dieser Art von Nuancen recht unvertrauten Geist war überall die gleiche Fassade aus dunklen vertikalen Holzlatten, die gleichen Schiebetüren, die gleichen mit Bambusvorhängen verhangenen Fenster, die gleichen Dächer aus blauen Ziegeln. Das einzige unterscheidende Merkmal, das ich endlich fand, war der Wagen des Nachbarn, ein kleiner weißer Toyota, der vor seinem Haus parkte, halb mit den Reifen auf dem Bürgersteig, allerdings verkannte ich nicht, als ich mich in der Straße entfernte, nachdem ich das Auto sorgfältig in bezug auf Bernards Haus lokalisiert hatte, daß es sich da um einen vergänglichen und beweglichen, prekären, unsteten Anhaltspunkt handelte.
    Ich war in den Gassen weitergegangen und hatte die U-Bahn genommen, war einige Stationen später ausgestiegen. Keine Ahnung, wo ich hinging, Bernard hatte mir einen Stadtplan überlassen, den ich kaum zu Rate zog, mir schwebte vage vor, auf den Spuren meiner Vergangenheit zu wandeln und den Weg zu dem Gasthaus einzuschlagen, in dem ich einige Jahre zuvor mit Marie abgestiegen war, aber ich zögerte nicht, kleine Querstraßen zu nehmen, und verirrte mich schließlich, machte kehrt, hielt an und ging Umwege, verloren in meinen Träumereien. Die Hände in den Taschen meines Mantels vergraben, ging ich in einem prächtigen Winterlicht eine breite Straße Richtung Fluß hinauf. Die Luft war rein und eiskalt, ich hatte kein Fieber mehr, fühlte mich erholt. Ich marschierte auf gut Glück, ziellos, verlor mich in Fußgängerstaus an der großen Kreuzung von Kawaramachi, flanierte in Ladengalerien, trat in Kalligraphie-Läden und blieb eine Weile vor den Tinten in Form fester Stäbe stehen, schwarz mit einer senkrechten goldenen Inschrift, schaute mir die kostbaren Pinsel an, aus Haaren von wer weiß was, die ein Saugeld kosteten. Ich trödelte in den Markthallen, blieb hier und da vor den großen Fässern mit Eingemachtem in der Auslage eines Kramladens stehen und faßte träge den Wunsch ins Auge, Riesenscheiben Thunfisch zu kaufen, Shiso, in Essig eingelegtes und bunt schillerndes Gemüse, grellrosa Ingwer, gelbes Daikon, bläulichrote Aubergine.
    Ich hatte kein genaues Ziel. Manchmal hielt ich an einer Kreuzung
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