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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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riesige Holzkisten waren gegen die Wände gestellt, und weitere, kleiner, aus Metall, lagen verstreut überall auf dem Boden. Ich überquerte die Straße und ging auf das große Steingebäude zu, das nach einer Bibliothek oder Universität aussah, das Städtische Kunstmuseum von Kioto, doch die Türen waren verschlossen, mit Gittern versperrt, und ich ließ es sein, ich trat in eine Telefonzelle und rief Marie in Tokio an. Es war nicht das erste Mal, daß ich sie im Hotel zu erreichen versuchte, ich hatte es bereits mehrfach von Bernard aus versucht, aber sie war nie da, ich landete immer bei einem Empfangschef des Hotels, der mich auf ihr Zimmer weiterleitete, wo das Läuten endlos in der Leere widerhallte.
    Auch dieses Mal hörte ich nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Angestellten der Rezeption die aufeinanderfolgenden Klingelzeichen in der Leere, und ich war schon wieder drauf und dran aufzuhängen, als ich hörte, wie der Hörer abgenommen wurde. Darauf folgte kein Laut, keine Stimme, aber ich spürte, daß da in der Ferne jemand war, ich hörte ein Atmen. Marie, sagte ich leise. Sie antwortete nicht sofort. Dann gab sie mir schließlich in einem Murmeln zu verstehen, daß sie schlafe, es war kaum ein artikulierter Satz, eher ein mattes, noch schläfriges Klagen. Von der Kabine aus sah ich eine menschenleere Bus-Haltestelle. Es war Nacht, auf dem Bürgersteig strebten einige Fußgänger in Richtung Heiligtum Heian. Marie, die meine Stimme erkannt hatte, fragte mich mit sanfter Stimme, wie spät es sei, und ich hob meinen Arm im Zwielicht der Kabine, um auf die Uhr zu schauen, und ich sagte, zwanzig vor sechs. Zwanzig vor sechs, wiederholte sie. Diese Uhrzeit schien ihr nichts zu sagen, sie sogar zu verstören, die leichte Verwirrung, die wohl in ihrem Kopf herrschte, noch zu verstärken, so als sei sie außerstande, herauszufinden, ob es sechs Uhr abends oder sechs Uhr morgens war, schließlich rückte doch wieder alles ins rechte Lot, und sie erklärte mir, daß Yamada Kenji um sieben ins Hotel kommen sollte, um sie zum Abendessen abzuholen. Ich habe Siesta gehalten, sagte sie, und da erkannte ich ihre Stimme, ihr Timbre, ihre Intonation, jenes Zipfelchen an Sinnlichkeit und Schalk, das sie charakterisierte. Marie, das war Marie, sie war nahe bei mir, ich hörte ihren Atem. Ich rührte mich nicht in der Kabine, ich sagte nichts, ich hörte ihr schweigend zu, sie hatte angefangen, leise zu sprechen. Es gehe ihr gut, sagte sie, sie war hochkonzentriert, von der Arbeit absorbiert, ihre Tage waren ermüdend, kräfteraubend, aber der Aufbau der Ausstellung war beendet, ich fehlte ihr nicht so übermäßig, es war für ihre Arbeit vielleicht sogar günstiger, daß ich nicht da war. Ja, ich glaube, daß es mir im Augenblick allein besser geht, sagte sie. All das sagte sie mit gleichförmiger leiser Stimme, leicht schläfrig, und ich dachte, daß ich dasselbe empfand wie sie, letztlich, daß auch mir es in diesem Augenblick allein besser ging, daß ich ruhiger und besänftigter war, ich konnte mich vor der Klarsicht ihres Urteils nur beugen, auch wenn es mir lieber gewesen wäre, ich hätte es selber festgestellt, denn man lindert die Grausamkeit einer Feststellung immer noch mit der Befriedigung, ihre Richtigkeit selbst herausgefunden zu haben.
    In der Regel rede ich nicht gern am Telefon, aber an diesem Abend, kurioserweise, wollte ich nicht aufhängen, ich wollte die Unterhaltung weiterführen, sie endlos fortsetzen, ihren Höhen und Tiefen folgen, nicht, um etwas Besonderes zu sagen, nur aus Vergnügen, um mich von Maries Stimme wiegen zu lassen, und wir wechselten weiter leise in der Nacht einige Worte, ich in der Telefonzelle stehend und zuweilen die Augen auf den menschenleeren freien großen Platz vor dem Museum für moderne Kunst richtend, und Marie in ihrem Bett, die sicher kein Licht angemacht hatte, vielleicht nicht einmal die Nachttischlampe, vermutlicht leuchtete nur der dünne weiße Strahl der für Erdbeben vorgesehenen Notleuchte in der Dunkelheit des Zimmers. Sie war allein im Bett und sprach weiter leise mit mir. Ich hatte die Augen geschlossen, um ihr zuzuhören, und ich hörte aus der Tiefe des Hörers ihre verschlafene Stimme mir sagen, daß sie nackt sei. Weißt du, ich liege ganz nackt im Bett, hauchte sie.
    Ich erwiderte nichts, blieb reglos in der Kabine stehen, aber ich konnte mir sehr gut Marie nackt unter den Decken in diesem überheizten Hotelzimmer vorstellen, das nach den verwelkten
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