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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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blauen Ziegeldach einen schmalen Streifen grauen Himmels. Der Garten badete in einem schweren tiefhängenden Dunst, der in der grauen feuchten Luft gleichsam stand. Ich lehnte mich aus dem Bett, um zu meiner Uhr zu greifen, und las elf Uhr fünfzehn auf dem Uhrenblatt, eine Uhrzeit, die mir nichts sagte, die nichts Besonderes in mir hervorrief, es hätte genausogut acht Uhr wie drei Uhr sein können, das wäre alles dasselbe gewesen, ich erwartete im übrigen von keiner Uhrzeit irgend etwas Bestimmtes.
    An diesem Tag verließ ich das Haus nicht. Nach einer vorsichtigen Erkundungstour im ersten Stock in Boxershorts und T-Shirt, ohne dabei auf den Treppen irgendeinen Lärm zu veranstalten (ein rascher Blick in Bernards Zimmer, um mich zu vergewissern, daß da niemand war, eine längere Pause in seinem Arbeitszimmer, wo ich zerstreut mit einem Finger über die auf dem Schreibtisch liegenden Papiere gestrichen hatte), war ich wieder hinuntergestiegen, um mir einen Kaffee zuzubereiten, hatte im Salon rumgehangen und alte Zeitschriften gelesen, auf der Matte sitzend, eine Decke über der Schulter. Manchmal mußte ich niesen und riß dann ein Stück Papier von einer Sopalin-Rolle, um mich zu schneuzen. Ich fühlte mich elend, hatte Schüttelfrost. Schließlich hatte ich mich wieder ins Bett gelegt, mit Fieber, die Glieder wie zerschlagen.
    Die Stunden vergingen. Der Regen hörte auf, ich schlief wieder ein, wachte wieder auf, ich wußte nicht mehr, was genau war. Ich tat nichts Besonderes, verließ nicht das Zimmer, schwitzte, heiße Stirn, leerer Kopf. Ich fühlte mich wohl in diesem Zustand der Schwäche und des Fiebers. Ich blieb stundenlang im Bett, schön eingemummt in die feste Decke des Futons, ich genoß die Empfindlichkeit meiner Brust, die Apathie meiner Glieder, ich kuschelte mich tief in die Daunendecke, um mich von ihrer Weichheit und Wärme durchdringen zu lassen, bisweilen stand ich auf, wankte in die Küche, um mir Tee zu machen, den ich brühend heiß in meinem Bett trank, um den Schüttelfrost zu bannen. Ich aß winzige Apfelstücke, die ich kraftlos schälte, um dann die Schalen neben mir im Zimmer in eine Untertasse zu legen, ich stand auf, um Pipi zu machen, mit geschrumpeltem, schmerzendem, empfindlichem Schwanz, wie fiebrig auch er, mit bloßen Füßen schlotterte ich den Gang entlang, kehrte schleunigst ins Bett zurück und kuschelte mich wieder in die Decken, um mich zu wärmen. Ich nahm diese Erkältung wie einen Schicksalsschlag, einen Luxus, eine Erfahrung. Ich zog mich an diesem Tag nicht an, rasierte mich nicht, ich blieb träumend im Bett liegen, die Augen zur Decke gewandt, ich rollte mich unter dem Federbett zusammen, döste einige Minuten vor mich hin, bereitete mir einige sprudelnde Medikamente, die ich Grimassen schneidend hinunterschluckte, versuchte, meinem geschwächten und leidenden Körper unbekannte Lüste zu entlocken, fremde Empfindungen, auch wenn ich, was Sinnesreize anbelangt, weiterhin das zärtlich Streichelnde des Wassers und das sanft Milde, Angenehme der Frauen den raffinierten Feinheiten des Schnupfens und Fiebers vorzog, auf die ich meinen schmerzenden Körper vergebens einzuschwören versuchte.
    Die Stunden waren leer, langsam und schwer, die Zeit schien angehalten zu sein, in meinem Leben ereignete sich nichts mehr. Nicht mehr mit Marie zusammenzusein war, wie wenn nach neun Tagen Sturm der Wind sich gelegt hätte. Jeder Augenblick mit ihr war übersteigert, beängstigend, spannungsgeladen, dramatisch. Ich fühlte unablässig ihre magnetische Kraft, ihre Aura, das Elektrisierende ihrer Gegenwart in der Luft, fühlte, wie der Raum sich füllte, wenn sie eintrat. Und jetzt nichts mehr, die Ruhe des Nachmittags, Müdigkeit und Überdruß, die Aufeinanderfolge der Stunden.
    Von Zeit zu Zeit klingelte das Telefon im Haus, und ich ließ es klingeln. Die ersten Male hatte es mich beunruhigt, die Klingelzeichen auf dem Stockwerk zu hören, ich hatte es als eine Anspannung empfunden, nicht hinzugehen und zu antworten, der Druck wuchs in dem Maße, wie die Klingelzeichen in der Leere weiter widerhallten, dann hatte ich mich daran gewöhnt und ließ das Telefon so lange es wollte klingeln, in völliger Gleichgültigkeit.
    Das ging nahezu achtundvierzig Stunden so, am ersten Tag sah ich Bernard überhaupt nicht, am zweiten nur kurz am frühen Nachtmittag. Ich tauchte aus einem fast sechsunddreißigstündigen Schlaf auf, unterbrochen von kurzem Hin- und Hergehen vom Bett zur
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