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Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Titel: Der letzte Weynfeldt (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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    »Tu es nicht«, wollte er sagen, aber es ging nicht.
    Adrian Weynfeldt hielt den Blick auf die weißen, sommersprossigen Fäuste der Frau gerichtet. Sie hatten das schmiedeeiserne Geländer so fest umklammert, dass die Knöchel noch weißer hervortraten. Er wagte nicht, ihr in die Augen zu schauen. Sie hatte ihn als Zeugen ausgesucht. Er hoffte, ein Sprung ohne Blickkontakt wäre ihr zu unpersönlich.
    Zwischen Balkonboden und Geländer guckten ihre nackten Füße herein. Jeder Zehennagel war in einer anderen Farbe lackiert. Das war ihm schon gestern Abend aufgefallen. Rot, gelb, grün, blau, violett der rechte. Der linke in der umgekehrten Reihenfolge. Violett, blau, grün, gelb, rot. So leuchteten die beiden mittleren Zehennägel in der gleichen Farbe: grün.
    Bei den Fingernägeln hatte sie auf das Spiel verzichtet. Sie trugen einen transparenten Lack und waren dort, wo sie über das Nagelbett hinausragten, weiß hintermalt. Er konnte sie in diesem Moment zwar nicht sehen, aber er erinnerte sich. Weynfeldt war ein Augenmensch.
    Das Weiß ihrer Knöchel verdunkelte sich ein wenig, was bedeutete, dass sie ihren Griff lockerte. »Das sind nur gut zehn Meter«, warf er rasch ein, »das überlebst du vielleicht. Stell dir lieber nicht vor, wie.«
    Die Knöchel wurden wieder weißer. Weynfeldt zog seinen linken Fuß auf die Höhe des rechten und schob diesen einen halben Schritt vor.
    »Bleib, wo du bist!«, sagte die Frau.
    Hieß sie Gabriela? Er konnte sich nicht erinnern, sein Namensgedächtnis taugte nichts. »Abgemacht: Ich bleibe, wo ich bin. Aber du auch.«
    Sie gab keine Antwort, aber die Knöchel blieben weiß.
    Hinter den Bürofenstern in der Neorenaissance-Fassade gegenüber brannte sonst fast den ganzen Tag über Licht. Aber heute waren sie dunkel. Es war Sonntag, noch früh am Vormittag. Die Straßen waren menschenleer, in großen Abständen fuhren Trams vorbei, und ganz selten war ein Auto zu hören. Weynfeldt schauderte bei der Vorstellung, die Szene könnte sich an einem Werktag abspielen. Die Frau trug einen schwarzen BH und ein dazu passendes knappes Höschen. So hoffte er jedenfalls – das grüne Segeltuch, das als Blickschutz vor dem Geländer hing, verdeckte sie von der Taille an abwärts. Und als er erwacht war, war sie schon dort draußen gestanden.
    Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Kein Geräusch, eher das fremde Parfum. Er war eine Weile mit geschlossenen Augen dagelegen und hatte versucht, sich an ihren Namen zu erinnern. Ihr Gesicht hatte er vor sich.
    Ein wenig hagerer vielleicht, ein wenig entschlossener, ein wenig illusionsloser. Aber die gleiche helle, sommersprossige Haut, die gleichen etwas schrägen grünen Augen, die gleichen roten Haare und vor allem: der gleiche Mund, dessen Oberlippe sich in ihrer Form kaum von der Unterlippe unterschied.
    Es war das Gesicht, das er seit so vielen Jahren zu vergessen und zu erinnern versuchte.
    Adrian Weynfeldt hatte den Samstagabend wie immer zugebracht: im Kreise der älteren seiner Freunde. Er hatte zwei Freundeskreise, die keine Berührungspunkte besaßen: Der eine bestand aus Leuten, die fünfzehn oder noch mehr Jahre jünger waren als er. Bei ihnen galt er als das etwas exotische Original, dem man sich anvertrauen, das man aber auch ein wenig belächeln konnte, das diskret die Restaurantrechnungen beglich und auch ab und zu bei finanziellen Engpässen aushalf. Sie behandelten ihn mit betonter Nonchalance als einen der ihren und sonnten sich doch heimlich im Glanz seines alten Namens und Geldes. Mit ihnen besuchte er Clubs und Lounges, für die er sich allein zu alt gefühlt hätte.
    Sein anderer Bekanntenkreis bestand aus Leuten, die noch seine Eltern gekannt hatten oder zumindest aus ihren Kreisen stammten. Sie waren alle über sechzig, einige älter als siebzig, und ein paar von ihnen hatten die achtzig überschritten. Und dennoch gehörten sie seiner Generation an. Ihre Eltern waren ungefähr im gleichen Alter wie die seinen gewesen, denn Adrian Weynfeldt war das späte Kind eines lange kinderlos gebliebenen Paares. Seine Mutter war vierundvierzig gewesen, als er zur Welt kam, und vor bald fünf Jahren, genau an seinem Fünfzigsten, mit fast fünfundneunzig gestorben.
    Freunde in seinem eigenen Alter besaß Weynfeldt keine.
    Den Samstagabend hatte er also im Kreise der betagteren Freunde zugebracht, in der Alten Färberei, dem gutbürgerlichen Restaurant eines Zunfthauses in der Altstadt, keine zehn Gehminuten von seiner
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