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Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Titel: Der letzte Weynfeldt (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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unmerklicher vergehe die Zeit. Jemand, den man jeden Monat sieht statt nur jedes Jahr, bleibt immer gleich alt. Und man selbst kommt dem andern auch immer gleich alt vor.
    Die Regelmäßigkeit verlangsamt den Lauf der Zeit. Davon war Weynfeldt fest überzeugt. Die Abwechslung mag das Leben ereignisreicher machen, aber sie machte es bestimmt auch kürzer.
    Er kam ins Schlafzimmer zurück. Lorena lag noch in der gleichen Stellung auf dem Federbett. Er betrachtete sie. Sie war sehr schlank, zart gebaut, fast ein wenig mager. Über der rechten Leiste sah er ein kleines Tattoo, das aussah wie ein chinesisches Schriftzeichen. Im Bauchnabel blitzte ein Piercing. Ein Stein im Diamantschliff, der jetzt aufglitzerte, als Weynfeldt auf den Schrank zuging und ein zweites Federbett herausnahm. Er legte sich neben Lorena und deckte sie beide zu.
    »Und bumsen?«, fragte sie schlaftrunken.
    »Morgen«, antwortete er. »Falls du noch magst.«
    »Okay.«
    Er löschte die Nachttischlampe.
    Sie streckte die Hand aus und ließ sie auf seiner Brust flach und reglos liegen. Bald ging ihr Atem wieder ruhig und regelmäßig.
    Schön blöd, dachte Weynfeldt, bevor er einschlief.
    Reden, reden, reden. So hatte Weynfeldt es in den Filmen gesehen, in denen ein Polizist einen Selbstmörder von der Tat abzuhalten versucht. Oder ein Unterhändler einen Geiselnehmer. Wenn es gelingt, sie von ihrem Vorhaben abzulenken, war das Spiel schon halb gewonnen. Aber es fiel ihm nichts ein. Wie im Traum, wenn man rennen muss und nicht vom Fleck kommt, stand er vor der Selbstmörderin und brachte kein Wort heraus.
    Wie damals, vor bald dreißig Jahren. Als Daphne gesagt hatte: »Ich gehe jetzt.« Nicht einmal »Geh bitte nicht!« hatte er sagen können. Oder: »Nein!« Nicht einmal die eine Silbe »nein«. Dabei wollte sie, dass er etwas sagte, das hatte er gespürt. Sie hatte dagestanden mit ihrem Köfferchen und ihm die Chance gegeben, sie zurückzuhalten.
    Daphne war eine Austauschstudentin gewesen. Er hatte sie auf einem kunsthistorischen Seminar kennengelernt. Alle hatten sich in sie verliebt, warum sie ihn erhört hatte, war ihm bis heute ein Rätsel geblieben. Als sie zurück nach England fuhr, folgte er ihr. Gegen den resignierten Widerstand seines Vaters und den wütenden seiner Mutter. Sie nahmen sich eine kleine Wohnung in Chelsea und verlebten ein Jahr, das in seiner Erinnerung mit jedem Jahr glücklicher geworden war.
    Weshalb es zu Ende ging, hatte er nie richtig begriffen. Ein Streit, eine kleine Abnutzungserscheinung, ein Fall von grundloser Eifersucht, er konnte es beim besten Willen nicht rekonstruieren. Aber er war sich sicher, dass sie heute noch zusammen wären, wenn er damals eine – eine einzige – Silbe herausgebracht hätte.
    Er hatte sprach-und tatenlos mit ansehen müssen, wie sie gegangen war. Nicht entschlossen oder wütend, sondern niedergeschlagen und zögerlich. Als wartete sie bis zum allerletzten Moment, dass er sie zurückhalte.
    Sie hatte gesagt, sie werde ihre Sachen in ein paar Tagen abholen lassen. Als sie das nach einer Woche noch immer nicht getan hatte, schöpfte er wieder Hoffnung. Nach zehn Tagen rief er bei ihren Eltern an. Von ihnen erfuhr er, dass sie zwei Tage nach ihrem Weggang einen Autounfall hatte. Sie war noch an der Unfallstelle gestorben.
    Er sah, wie sich der Griff der Fäuste wieder lockerte, die Farbe der Knöchel sich der der übrigen Hand anpasste. »Tu es nicht«, wollte er sagen, »bitte, bitte, tu es nicht.« Stattdessen stand er nur da und spürte die Gleichgültigkeit auf seinem Gesicht, gegen die er genauso machtlos war wie gegen die Sprachlosigkeit. Es war, als breite sich die Lähmung seiner Zunge auf seine ganze Mimik aus. Als ob die Haut und die Muskeln erschlafften und dadurch ungewollt einen Ausdruck von unsäglich blasierter Gleichgültigkeit annahmen.
    »Dir ist es scheißegal, ob ich springe«, sagte sie.
    Weynfeldt gelang es, den Blick zu heben und ihr ins Gesicht zu sehen. Auch jetzt im schonungslosen Licht des hellgrauen Sonntagmorgens erschreckte ihn die Ähnlichkeit mit Daphne. Zwar trug es Spuren von Resignation und Illusionslosigkeit, die er bei Daphne nie gesehen hatte, nicht einmal an dem Tag, als alles vorbei war. Dennoch kam es ihm vor, als kannten sie sich seit dreißig Jahren.
    »Scheißegal«, sagte sie noch einmal.
    Jetzt gelang es ihm, den Kopf zu schütteln.
    »Die Sauerei stört dich und das Aufsehen. Und die ganzen Formalitäten mit der Polizei sind natürlich auch
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