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Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Titel: Der letzte Weynfeldt (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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Wohnung entfernt. Dr. Widler war da gewesen, der alte Hausarzt seiner Mutter, der in den letzten Monaten immer apathischer geworden, um ein paar Kleidergrößen geschrumpft war und in seinen Maßanzügen verlorenzugehen drohte. Umso lebhafter seine Frau, immer noch tadellos geschminkt, tadellos frisiert und tadellos gekleidet. Und noch immer machte sie sich einen Spaß daraus, ihre Porzellandamenhaftigkeit mit Kraftausdrücken und ordinären Äußerungen zu kontrastieren.
    Remo Kalt war dazugestoßen, sein kürzlich verwitweter Vetter mütterlicherseits, Mitte siebzig, im schwarzen Dreiteiler mit goldener Uhrkette und kurz getrimmtem Thomas-Mann-Schnurrbart, als käme er direkt aus einer Porträtsitzung mit Ferdinand Hodler. Remo Kalt war Treuhänder, hatte das Vermögen von Weynfeldts Eltern verwaltet und tat das weiterhin für deren Sohn. Adrian hätte das auch selbst übernehmen können, aber er brachte es nicht übers Herz, Kalt sein letztes Mandat zu entziehen. Viel falsch machen konnte der nicht. Es handelte sich zwar nicht um ein riesiges Vermögen, aber um ein solides. Und es war konservativ und langfristig angelegt.
    Sie hatten die Bernerplatte bestellt, die im Winter jeden Samstagabend auf der Karte stand. Dr. Widler hatte kaum etwas angerührt, seine während ihrer bald achtzig Jahre von gertenschlank über dünn nun mager gewordene Frau Mereth hatte sich von allem – Speck, Zunge, Saucisson, Geräuchertem – zweimal servieren lassen. Kalt hatte mitgehalten, und Weynfeldt hatte gegessen wie ein Mann, dem es noch nicht ganz egal war, wie er aussah.
    Es war ein angestrengt lustiger Abend geworden. Angestrengt, weil Mereth Widlers Provokationen schon etwas abgegriffen waren und weil auf der Tischrunde die Gewissheit lastete, dass es wohl eines der letzten Male sein würde, an denen ihr Mann mit am Tisch saß.
    Widlers verabschiedeten sich früh, Weynfeldt trank mit Remo Kalt noch one for the road, und als ihnen kurz darauf der Gesprächsstoff ausging, bestellten sie ein Taxi für Kalt.
    Weynfeldt wartete mit ihm vor dem Eingang. Es war ein frühlingshafter Abend, viel zu mild für Februar. Der Himmel war klar, und ein noch fast voller Mond schwebte hoch über den steilen Dächern der Altstadt. Die Gasse war menschenleer bis auf eine ältere Frau mit einem aufgeregten Spitz an der Leine. Sie beobachteten schweigend, wie sie sich hilflos von ihrem Hund spazieren führen ließ, stehenblieb, wo er schnüffeln, den Schritt beschleunigte, wo er vorbeigehen und die Route änderte, wo er die Gasse überqueren wollte.
    Endlich krochen die Lichtkegel zweier Scheinwerfer hinter der Biegung hervor, gefolgt von einem Taxi, das langsam auf sie zufuhr und auf ihrer Höhe stehenblieb. Sie verabschiedeten sich mit einem formellen Händedruck, und Weynfeldt schaute dem Wagen nach, dessen Taxischild erloschen war und dessen Bremslichter vor der Einmündung in die Hauptstraße aufglühten.
    Sein Heimweg führte ein Stück am Fluss entlang und am La Rivière vorbei, an welchem er um diese Zeit – es war erst kurz vor elf – nur schwer vorbeigehen konnte. Er betrat das Lokal, wie so oft an einem Samstagabend, den er in Gesellschaft seiner betagteren Freunde verbracht hatte.
    Das La Rivière war noch vor zwei, drei Jahren eine etwas angestaubte Konditorei gewesen. Dann wurde es von einem der vielen aufstrebenden Gastronomieunternehmen der Stadt übernommen, das daraus eine sehr amerikanische Cocktailbar machte. Man trank dort aus schlichten Gläsern Martinis, Manhattans, Daiquiries und Margaritas, die einem von zwei Barkeepern in eierschalenfarbenen Dinnerjackets gemixt wurden. An Samstagabenden spielte ein Trio gedämpft seine Smooth Jazz Classics.
    Jetzt war das La Rivière noch halbleer, doch das würde sich in der nächsten Viertelstunde ändern, wenn die Kinos aus waren. Weynfeldt setzte sich an seinen Stammplatz an der Bar, den ersten Hocker an der Wand. Von dort aus konnte er das Geschehen überblicken und musste sich nie mit mehr als einem Sitznachbarn abgeben. Der Barman kannte ihn und brachte ihm seinen Martini, von dem er nur die Olive essen würde. Weynfeldt war ein mäßiger Trinker.
    Er neigte auch sonst nicht zu Ausschweifungen. Wenn er auf dem Nachhauseweg noch in einer Bar hereinschaute, tat er das nicht wie andere Junggesellen auf der Suche nach einem bisschen Gesellschaft, Wärme, Sex. Er litt nicht unter Einsamkeit. Im Gegenteil: Er genoss es, allein zu sein. Wenn er dennoch immer wieder Gesellschaft suchte,
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