Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Titel: Der letzte Weynfeldt (German Edition)
Autoren: Martin Suter
Vom Netzwerk:
lästig. Aber sonst…« Sie löste eine Hand vom Geländer und hob sie zu einer gleichgültigen Geste.
    Hilflos stand er da. Wie ein Ölgötze, hätte seine Mutter gesagt. Dann schüttelte er wieder den Kopf.
    Sie ließ die Hand sinken, führte sie aber nicht an das Geländer zurück, sondern streckte sie hinter sich, blickte an ihr entlang auf die Straße hinunter und lehnte sich zurück, nur noch einhändig gesichert, wie eine Trapezkünstlerin, die ihren Applaus entgegennimmt. »Nenne mir einen Grund, nicht loszulassen. Nur einen einzigen.«
    Er spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten und sich sein erstarrtes Gesicht verzerrte. Dann löste sich ein lauter Schluchzer aus seiner Brust.
    Sie wandte überrascht den Kopf und schaute den weinenden Mann im weißen Pyjama an. Dann kletterte sie zurück auf den Balkon, führte Weynfeldt zum Bett, legte den Arm um ihn und heulte ebenfalls los.
    »Hast du das nie? Dass dir alles sinnlos vorkommt? Dass du dir nicht vorstellen kannst, wie du den nächsten Tag überstehen sollst? Dass dir nur noch Dinge einfallen, die dich deprimieren? Dass du keinen einzigen Grund findest zu leben, aber tausend, tot zu sein? Hast du das wirklich nie?«
    Sie saßen im Bett, die Kissen zwischen Wand und Rücken gestopft, auf dem Federbett ein Tablett mit kaum angerührten Aufback-Croissants, Honig, gelblich glänzender weicher Butter und zwei leeren Tassen mit Schokoladerändern. Sie waren erschöpft wie ein Paar nach einem großen, dramatischen, an den Grundfesten der Beziehung rüttelnden Streit.
    Weynfeldt überlegte. Es gab schon Tage, an denen er etwas schwermütig war, traurigen Gedanken nachhing und auf nichts Lust hatte. Aber seine einzige Reaktion war dann jeweils, diesen Tag vorzeitig zu beenden. Nicht das Leben. »Karl Lagerfeld hat einmal gesagt: ›Ich versuche, meine eventuellen Depressionen in der Kategorie ‚schlechte Laune‘ unterzubringen.‹ Hat mir gut gefallen.«
    »Wenn ich ein Leben hätte wie Karl Lagerfeld oder du, würde ich vielleicht auch mehr daran hängen.«
    »Was hast du denn für ein Leben?«
    »Ein Scheißleben.«
    »Jedes Leben ist lebenswert.«
    »So ein Kitsch.«
    »Vor ein paar Jahren bin ich durch Mittelamerika gereist. In einem Dorf, dessen Namen ich vergessen habe, hatten wir eine Panne, irgendetwas mit dem Vergaser. Es regnete in Strömen. Wir standen an der Einbiegung einer kleinen, aufgeweichten Naturstraße, die zu ein paar aus groben Brettern und Wellblech gezimmerten Hütten führte. Während mein Fahrer unter der Motorhaube bastelte, wartete ich im Wagen. Ich hatte das Fenster halb geöffnet, denn es war heiß und stickig. Ein Paar ging vorbei, jung, halbe Kinder. Er ging vor ihr und trug ein in ein Tuch gehülltes Neugeborenes. Sie folgte ihm, bleich, erschöpft, aber lächelnd. Sie bogen in das Sträßchen ein, das zu den Hütten führte. Ihre Schuhe versanken tief im Schlamm. Da hörte ich sie sagen: ›Jetzt ist das Glück vollkommen.‹«
    Sie sagte nichts. Als er sie nach einer Weile anschaute, hatte sie wieder Tränen in den Augen. Er zupfte drei Kleenex aus der Box und reichte sie ihr.
    Als sie sich geschneuzt hatte, sagte sie: »Solche Geschichten trösten mich nicht. Solche Geschichten geben mir den Rest.« Sie stand auf, ging ins Bad und blieb lange. Er hörte die Toilette und die Dusche. Als sie wiederkam, trug sie einen seiner Morgenröcke mit dem Monogramm A.S.W. Er reichte ihr fast bis auf den Boden, die Ärmel hatte sie hochgekrempelt. »Ich muss jetzt gehen.«
    »Ich bring dich runter.« Er ging ins Bad und ins Umkleidezimmer. Als er eine Viertelstunde später ins Schlafzimmer kam, war sie nicht mehr dort und das Bett gemacht. Sie wartete im Vestibül in einem Stahlrohrsessel und hatte schon den Mantel an. Sie sah ihn etwas spöttisch an. »Du bindest dir sogar für eine Liftfahrt eine Krawatte um?«
    Im Aufzug schwiegen sie. Er ließ sie durch die Sicherheitsschleuse und dann durch die schwere Eingangstür auf die Straße. Einen Moment lang standen sie etwas verlegen auf dem Trottoir. Weynfeldt zückte die Brieftasche und gab ihr seine Karte. »Falls.«
    »Falls was?«
    »Falls was immer.«
    Sie las die Karte. »Aha, Doktor«, sagte sie und steckte sie in die Handtasche. »Ich habe leider keine.«
    Weynfeldt wollte sie nach ihrer Telefonnummer fragen, aber dann ließ er es bleiben.
    Sie blickte in den grauen Himmel. »Fürs Wetter hat es sich nicht gelohnt, am Leben zu bleiben.«
    »Aber sonst.«
    »Wofür
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher