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Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Der letzte Weynfeldt (German Edition)

Titel: Der letzte Weynfeldt (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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sonst?«
    Er zuckte mit den Achseln. »Es gibt immer etwas, wofür es sich lohnt, am Leben zu bleiben.«
    Sie betrachtete ihn ernst. »Garantierst du mir das?«
    »Garantiert.«
    Sie umarmte ihn mit dem freien Arm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann lächelte sie ihn an. »Eines Tages tu ich’s.«
    Und jetzt gelang es ihm: »Tu es nicht«, sagte er.
    »Lorena. Du hast meinen Namen vergessen. Tu es nicht, Lorena.«
    Sie ging die Straße hinunter. Er sah ihr nach, aber sie wandte sich nicht mehr um.

2
     
    Von seinem Bürofenster aus sah Adrian Weynfeldt den Quai, die Anlegestelle der weißen Kursschiffe, die meistens aus irgendeinem Grund beflaggten Trams, die stockende Kolonne der Autos und den steten Strom der eiligen Passanten.
    Es war kurz vor fünf, die Stoßzeit hatte begonnen, aber die schallisolierten Fenster sperrten den Verkehrslärm aus, die belebte Szenerie sah aus wie ein Fernsehbild ohne Ton. Schon oft hätte er gerne bei offenen Fenstern gearbeitet, aber eine Klimaanlage hielt das ganze Jahr über Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit auf einem gleichmäßigen Niveau, mit Rücksicht auf die wertvollen Bilder und Kunstgegenstände, die bei ›Murphy’s‹ lagerten.
    Doch an einem Tag wie diesem hielt Weynfeldt die Fenster ganz gerne geschlossen. Weder warm noch kalt, weder feucht noch trocken, weder klar noch düster. Ein Tag von einer deprimierenden Durchschnittlichkeit, dem er wünschte, es möge etwas Außergewöhnliches geschehen, damit er sich an ihn erinnere.
    Er hatte den ganzen Tag an der Frühjahrsauktion »Swiss Art« gearbeitet, Werke beschrieben und ihre Laufbahn aufgelistet, nach Sekundärliteratur gesucht und Preise geschätzt. Es blieb ihm zwar noch Zeit bis zum Redaktionsschluss des Katalogs, aber die brauchte er auch. Er hatte kein gutes Gefühl. Die Auswahl war etwas homogen. Er hatte kein einziges Los, das Aufsehen erregen und einen Rekordpreis erzielen könnte. Das beste Werk war ein Hodler, eine Landschaft, Öl auf Leinwand, die eine Landstraße mit Telegrafenmasten zeigte. Er schätzte sie auf hundertfünfzig-bis zweihunderttausend Franken und erhoffte sich einen Hammerpreis von etwa dreihunderttausend. Dann kam bereits das schlafende Hirtenmädchen von Segantini, ein Aquarell zu einem Schätzpreis von sechzig-bis achtzigtausend. Und in dieser Kategorie waren auch eine Gebirgslandschaft von Calame, eine Dorfidylle von Benjamin Vautier, ein Rosenbild von Augusto Giacometti. Danach die Ölbilder der weniger bekannten Namen – Castan, Vallet, Frölicher, Zünd, Barraud. Der Rest waren Studien – Zeichnungen und Aquarelle – der großen Namen: Anker, Hodler, Vallotton, Amiet, Segantini, Giacometti, Pellegrini in ein-bis zweistelligen Tausenderbeträgen. Was fehlte, war die obere Mittelklasse, Werke zwischen hundert-und zweihunderttausend Franken, und ein oder zwei Conversation Pieces, wie sich Véronique, seine Assistentin, ausdrückte. Bilder und Geschichten, mit denen sie die Presse füttern konnte.
    Véronique saß in seinem Vorzimmer vor den beiden Bildschirmen, neben sich eine schwarze quadratische Plastikbox mit thailändischen Snacks. Seit der thailändische Designer-Takeaway in der Parallelstraße eröffnet worden war, erlag sie mehrmals am Tag der Versuchung, auf einen Sprung hinunterzugehen und sich etwas zu holen. Wenn immer möglich tat sie es im Verborgenen, in der Hoffnung, dass Weynfeldt ihre Abwesenheit nicht bemerkte. Nicht, weil er etwas dagegen gehabt hätte, Weynfeldt war ein toleranter Chef, sondern weil sie, wie alle Süchtigen, es nicht einmal sich selbst eingestehen wollte, dass sie süchtig war.
    Véronique war Mitte dreißig, hatte ein rundes, stark geschminktes, faltenloses Gesicht, das von einem blonden Pagenschnitt eingefasst wurde, wohl in der Hoffnung, es dadurch etwas länger und schmaler zu machen. Ihr Körper war dick und wirkte formlos durch die körperferne Garderobe, die sie in diesem Stadium bevorzugte. Weynfeldt hatte in den Jahren ihrer Zusammenarbeit auch andere Stadien erlebt. Véronique war eine Jo-Jo-Frau. Sie hungerte mit der gleichen Maßlosigkeit, mit der sie aß. Sie konnte im gleichen Jahr alle Gewichtsklassen von unterernährt bis übergewichtig durchmachen. Für das Arbeitsklima waren nach Weynfeldts Meinung Letztere viel bekömmlicher, aber er würde so etwas natürlich nie laut sagen.
    Er hatte sie zu seiner eigenen Verlegenheit vorhin ertappt, als sie mit ihrem Thai-Snack zurückkam. Er hatte genau in der Sekunde das
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