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Pittys Blues

Pittys Blues

Titel: Pittys Blues
Autoren: Julia Gaebel
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DREI TAGE SCHNEE

    A ls sie auftauchte, war Pitty für alle ein Rätsel. Ein Rätsel, das schnell gelöst werden musste, eine Frage, die eine Antwort brauchte, denn unbeantwortete Fragen werfen nur neue Fragen auf, und Fragen machen Knoten im Kopf, und Knoten im Kopf machen Kopfschmerzen. Kopfschmerzen wollte keiner, und so hatte man schnell Antworten zur Hand.
    Man sagte, Pitty Pruitt sei nicht ganz richtig im Kopf, irgendwie verdreht. Und er, er sei ein fauler Hund, der den Tag damit verbringen würde, auf dem Sofa zu liegen und den Holzwürmern in der Decke seiner alten Hütte beim Arbeiten zuzusehen. Pitty war vielleicht wirklich nicht ganz richtig im Kopf, aber niemand nahm sich die Zeit, das herauszufinden.
    Denn sie war nur kurz da. Während dieser drei Tage passierten merkwürdige Dinge. Dann war sie wieder weg. Von diesen drei Tagen Schnee erzähle ich.
    Ich meine nicht, dass Pitty komisch geguckt hätte oder mit den Augen gerollt oder so was, nein. Sie war einfach nur langsamer als alle, die ich kannte und kenne. Da konnte man schon mal vergebens auf eine Antwort warten, ja, so war sie. Ich finde, sie haben toll zusammengepasst, Pitty und der faule Hund. Aber andere waren da anderer Meinung. Der faule Hund hatte
den Namen Dick. Das alles ist schon lang her. Ich war noch ein Junge damals. Und ich, ich mochte Pitty auf Anhieb.
    Dick, also genauer Richard III. TreLuke, so hieß er mit vollem Namen, benannt nach seinem Großvater. Sie haben sich im Schnee kennengelernt, Pitty und er. Und ich war dabei. Bei uns schneit es eigentlich nicht, auch nicht im Winter. Ich glaube, es war der erste Schnee überhaupt in Rickville. Rickville, die Stadt meiner Väter, war eigentlich keine Stadt, sie war ein Kaff. Den Unterschied zwischen einer Stadt und einem Kaff erkennt man daran, dass in einem Kaff jeder seinen eigenen Whiskey brennt, während es in einer Stadt eine Destille gibt. Die nächste Destille war in Jampaign, fünfzehn Meilen entfernt. Für ihre Einwohner war Rickville trotzdem eine Stadt.
    Der Whiskey war eine große Sache bei uns, vielleicht aus dem Grund, dass sich mindestens einmal pro Jahr jemand mit seiner illegalen Brennbutze in die Luft jagte, so dem Bestatter ein nettes Zubrot bescherte und allen anderen einen Anlass, sich herauszuputzen. Mein Dad war der erste Schwarze gewesen, der sich derart zu den Engeln gesellen durfte. Das war eine große Ehre. Zumal er für die meisten in Rickville ein Nichts gewesen war. Aber das ist eine andere Geschichte.
    Es fing also an zu schneien. Erst kleine feine, dann richtig dicke Flocken. Mit den Schneeflocken ist es wie mit den Fettaugen auf der Suppe. Je dicker sie sind, desto schöner ist es.
    Der Schnee und Pitty kamen damals als Fremde in
unsere Stadt. Der Schnee nach Pitty. Weiß, erst tänzelnd, dann schwer erkundete er die Straßen, Häuser und Menschen. Alle beäugten ihn argwöhnisch. Das will nichts heißen, das machen sie hier mit allen Neuankömmlingen. Ist wahrscheinlich noch eine Macke aus dem Bruderkrieg. Aber dieses Mal war es anders. Es war tatsächlich etwas Merkwürdiges an diesem Neuling. Ich habe in meinem Leben seitdem oft Schnee fallen sehen. Aber nur dieses eine Mal in Rickville. Und ich bin fast achtzig Jahre alt.
    Die Kälte ließ uns frösteln damals, aber nicht, weil die Temperaturen absackten. Man hatte das Gefühl, als würde sie direkt in unsere Seele greifen und uns etwas nehmen, das uns wichtig war. Sie ließ sich Zeit, wühlte gemächlich in unseren Herzen herum, schmiss Erinnerungen durcheinander, wirbelte längst vergessene Schmerzen auf und holte sie an die Oberfläche. Ich habe gesehen, wie Jack Griffins, der Krämer, aus seinem Laden kam, mit einer Konservenbüchse in der Hand. Er schaute in die schwebenden Flocken und fing an zu weinen. Er weinte nicht laut, es kullerten nur Tränen über seine fleischigen, grobporigen Wangen, während die kleinen Eiskristalle auf seiner Halbglatze schmolzen.
    Es schneite drei Tage lang ohne Unterbrechung. Und fast jeder in Rickville hat im Laufe dieser Tage mindestens ein Mal geweint. Um eine verpasste Gelegenheit, eine verlorene Liebe oder ein verkohltes Abendessen. Wie zum Beispiel Gladie Lucas, die um ihre hinkende Hannah weinte. Aber nur, weil die das einzige Huhn war, das immer Eier mit zwei Dottern gelegt hat.

    Es gibt Menschen, die kommen besser mit Veränderungen klar als andere. Und es gibt Menschen, die mögen es am liebsten, wenn alles bleibt, wie es immer war. So ist es bei uns
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