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Das Geheimnis der Burggräfin - Roman

Das Geheimnis der Burggräfin - Roman

Titel: Das Geheimnis der Burggräfin - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
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KAPITEL 1
    Worms, 20. Siwan im Jahr 4826
nach Erschaf fung der Welt
(16. Juni im Jahre des Herrn 1066)
     
    G relles Licht schlug Rifka entgegen, als sie mit einem Korb auf dem Arm aus dem Haus trat. Die Luft flimmerte vor Hitze. Für einen Moment blieb sie stehen und schloss geblendet die Augen. Eine schwache Brise streifte ihr Gesicht, brachte den Geruch nach Gewürzen und Früchten, Unrat und Schweiß und fauligem Flusswasser vom nahe gelegenen Rhein mit sich – doch keine Kühlung.
    In diesem Jahr war der Sommer früh gekommen. Seit Schawuot, dem Erntedankfest, hatte sich kein einziges Wölkchen mehr am Himmel gezeigt, und der Staub, den Mensch und Tier vom trockenen Boden aufwirbelten, war ebenso allgegenwärtig wie der Lärm, der stets auf den Gassen herrschte.
    »Vergiss nicht, Schabbatkerzen vom Wachszieher mitzubringen, Herrin. Und lass dich nicht übervorteilen, hörst du? Abraham kann dir die Fibel vom Leib schwatzen, ehe du es merkst, wenn du ihn lässt. Du musst dich sputen, es ist bald Mittag. Und hab Acht auf dich!«, hörte Rifka die Stimme ihrer alten Magd aus dem Halbdunkel der Diele.
    »Ja, ja«, rief sie zurück, halb belustigt, halb ärgerlich, bevor sie rasch die Tür hinter sich schloss.

    Obwohl es schon über ein Jahr her war, dass Rifka das väterliche Heim verlassen hatte, um mit Joschua ben Jehuda das Ehegelöbnis unter der Chuppah zu sprechen, hätschelte Hannah sie immer noch wie ein Kind.
    ›Ich werde alt und grau sein, bevor sie das aufgibt‹, dachte sie mit einem Anflug von Ungeduld.
    Bereits erhitzt, strich Rifka den Schleier zurück, der ihr tiefschwarzes Haar bedeckte, und hob sich den Korb auf die Schulter.
    Doch in einem hatte Hannah Recht: Sie sollte sich beeilen. Das Haus musste blitzblank und alle Mahlzeiten mussten vorbereitet sein, bis sie am Abend zu Ehren des Schabbats die Kerzen anzünden und den Segen darüber sprechen würde, wie es ihr Vorrecht war.
    Ein Lächeln freudiger Erwartung glitt über Rifkas Gesicht, während sie sich geschickt an einer Gruppe junger Männer vorbeischob, die, in eine heftige Debatte vertieft, vor ihrem Haus stehen geblieben waren.
    »Der Todesengel sprach mit Rabbi Josua ben Levi, als er darum bat, er möge ihm seinen Platz im Paradies zeigen … «, hörte sie einen der Männer argumentieren.
    »Rabbi Gershom sagte jedoch, der Todesengel sei …«
    »Schabbat Schalom«, grüßte Rifka.
    Die Debatte verstummte. Für einen Augenblick sahen die jungen Männer sie irritiert an, ehe sie den Schabbatgruß erwiderten und ihr Gespräch sogleich mit unverminderter Leidenschaft wiederaufnahmen.
    Rifka war nicht überrascht, und ihr Lächeln verscheuchte den ernsten Ausdruck, der trotz ihrer Jugend die großen, dunklen Augen immer ein wenig zu überschatten schien.
    Als Tochter eines Gelehrten war sie daran gewöhnt, dass den Männern der Blick auf ihre Umwelt verloren ging, sobald es um Tora und Talmud ging. Eine Eigenschaft, die
auch ihr junger Gatte teilte. Hatte Joschua erst seine Nase in den Schriften vergraben, schien daneben kein Platz mehr für die praktischen Dinge des Lebens zu sein. Mochte er aber auch in alltäglichen Belangen ein wenig unbeholfen sein, so war er ihr doch ein liebevoller Ehemann, und sie war stolz darauf, ihn an der Talmudschule zu Worms studieren zu sehen. Die Jeschiwa hatte weit über die Grenzen des fränkischen Reiches hinaus Berühmtheit erlangt. Hier lehrten die Schüler des großen Rabbi Gershom, und hier hatte auch noch bis vor einem Jahr Rabbi Schlomo ben Yitzchak gelernt und gelehrt, dem man trotz seiner Jugend bereits den Ehrennamen Raschi verliehen hatte.
     
    »Schabbat Schalom, Rifka!« Der Ruf übertönte das vielfältige Stimmengewirr auf der Gasse: Das Jiddisch der Bewohner des Viertels, die fränkischen Dialekte der Christen sowie fremde Laute wie Gälisch, Französisch und die Sprache der Briten.
    Rifka blieb stehen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um nach dem Rufer Ausschau zu halten. Endlich entdeckte sie auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse Sarah, die Frau des Goldschmieds, inmitten einer kleinen Schar schwatzender Frauen. Sie winkte ihr zu und gestikulierte, sie möge sich dazugesellen. Kaum hatte Rifka bedauernd den Kopf geschüttelt, als Sarah und die Frauen hinter einer Staubwolke verschwanden, die ein Ochsenkarren hinter sich aufwirbelte. Schwerfällig und bis über die Latten hinaus mit prallgefüllten Säcken beladen, rumpelte das Gefährt an ihr vorbei. Eines der Räder
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