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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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Ich hatte eine kleine Flasche mit Salzsäure füllen lassen und trug sie jetzt immer bei mir, mit der Idee, sie eines Tages jemandem mitten in die Visage zu schütten. Ich brauchte nur die Flasche zu öffnen, eine Flasche aus buntem Glas, die zuvor Wasserstoffperoxyd enthalten hatte, auf die Augen zu zielen und wegzurennen. Ich fühlte mich seltsam ruhig, seitdem ich mir diese Flasche mit bernsteinfarbener und ätzender Flüssigkeit beschafft hatte, die meine Stunden würzte und meine Gedanken schärfte. Marie aber fragte sich, mit einer vielleicht nicht unbegründeten Sorge, ob diese Säure nicht eines Tages in meinen Augen, meinem eigenen Blick landen würde. Oder in ihrer Visage, in ihrem seit so vielen Wochen verweinten Gesicht. Nein, sagte ich ihr mit einem freundlichen verneinenden Lächeln. Nein, ich glaube nicht, Marie, und ohne sie aus den Augen zu lassen, strich ich zärtlich über die anmutigen Rundungen der kleinen Flasche in meiner Jackentasche.
    Noch bevor wir uns zum ersten Mal küßten, hatte Marie zu weinen angefangen. Es war in einem Taxi, vor sieben Jahren und mehr, sie saß neben mir im Halbdunkel des Taxis, das Gesicht in Tränen, gezeichnet von den fliehenden Schatten der Seine-Quais und dem gelb-weißen Widerschein der Scheinwerfer uns entgegenkommender Autos. Wir hatten uns bis zu diesem Augenblick noch nicht geküßt, ich hatte noch nicht ihre Hand ergriffen, hatte ihr noch nicht die geringste Liebeserklärung gemacht – aber habe ich ihr je eine Liebeserklärung gemacht? –, und ich betrachtete sie, ergriffen, hilflos, sie so weinend an meiner Seite sitzen zu sehen.
    Die gleiche Szene hat sich vor einigen Wochen in Tokio wiederholt, aber da trennten wir uns für immer. Wir sprachen nichts in diesem Taxi, das uns ins Grandhotel von Shinjuku zurückfuhr, wo wir am selben Morgen angekommen waren, und Marie weinte still an meiner Seite, sie schniefte und schluchzte leise an meine Schulter gelehnt, wischte sich in weitausholenden wirren Gesten mit dem Handrücken die Tränen ab, schwere Tränen der Trauer, die sie entstellten und die Wimperntusche verlaufen ließen, während es vor sieben Jahren, als wir uns kennenlernten, reine Tränen der Freude waren, leicht und duftig wie Schaum, die schwerelos ihre Wangen hinunterrannen. Das Taxi war überheizt, und Marie war es jetzt zu warm, sie fühlte sich schlecht, sie zog schließlich unter Schwierigkeiten, neben mir auf dem Rücksitz sich windend und drehend, ihren langen schwarzen Ledermantel aus, schnitt dabei, offenbar wütend auf mich, Grimassen, obwohl ich doch nichts dafür konnte, verdammt nochmal, wenn es so heiß im Taxi war, brauchte sie sich bloß beim Fahrer zu beschweren, am Armaturenbrett hing gut sichtbar sein Name und Paßfoto. Sie stieß mich weg, um den Mantel zwischen uns auf den Sitz zu legen, zog ihren Pullover aus und knüllte ihn neben sich. Sie hatte nur noch eine verrutschte und zerknitterte weiße Hemdbluse an, die, oben offen, den Blick auf ihren schwarzen Bürstenhalter freigab und über dem Gürtel ihrer Hose ein wenig heraushing. Wir sprachen nichts im Taxi, und aus dem Autoradio schallten pausenlos rätselhafte und beschwingte japanische Schlager ins Halbdunkel.
    Das Taxi setzte uns vor dem Hoteleingang ab. In Paris, sieben Jahre zuvor, hatte ich Marie vorgeschlagen, irgendwo in der Nähe der Bastille, wo noch was offen hatte, ein Glas trinken zu gehen, in der Rue de Lappe, oder der Rue de la Roquette, oder der Rue Amelot, der Rue du Pas-de-la-Mule, ich weiß nicht mehr. Wir waren lange in der Nacht umhergelaufen, waren von einem Café zum anderen, von einer Straße zur anderen im Viertel geirrt, um schließlich an der Île Saint-Louis auf die Seine zu stoßen. Wir hatten uns nicht sofort in dieser Nacht geküßt. Nein, nicht sofort. Aber wer möchte ihn nicht hinauszögern, diesen köstlichen Augenblick, der dem ersten Kuß vorausgeht, da zwei Wesen, die sich zueinander hingezogen fühlen, bereits stumm beschlossen haben, sich zu küssen, ihre Augen es wissen, ihr Lächeln es ahnt, ihre Lippen und Hände es spüren, aber die den Augenblick noch hinauszögern, da ihre Münder sich zum ersten Mal zärtlich berühren?
    In Tokio waren wir sofort auf unser Zimmer gegangen, wir hatten wortlos die große menschenleere Hotelhalle mit den erleuchteten Kristallüstern durchquert, ein Trio gleißender Leuchter, die vor unseren Augen genau in dem Moment, als wir ins Hotel zurückkamen, sachte zu schaukeln anfingen, die Leuchter
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