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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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an, um den Plan zu Rate zu ziehen, und folgte weiter meiner Strecke dem entlang, was mir Higashioji schien, ein langer grauer gewundener Boulevard, benzinverpestet und laut, verstopft mit Lastwagen und Bussen, die in Schrittempo fuhren, eingekeilt im Verkehr, mit einem orangefarbenen Strich auf der Windschutzscheibe neben einer Nummer, einem rätselhaften Ideogramm und einem Bestimmungsort, Kioto Station, Ginkakuji. Ich war in die Nähe des alten Kanals gekommen und ihm gefolgt, als ich ergriffen die orangerote Silhouette des Heiligtums Heian erkannte, dessen Säulenhalle sich in der Ferne zwischen Bäumen erhob. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie eine derartige Rotnuance gesehen, diese undefinierbare Farbe, weder rosa noch wirklich orange, dieses aufgelöste, sämige, entkräftete Rot – das Zinnoberrot der untergehenden Sonne an gewissen Sommerabenden, wenn der runde Stern am Horizont, bleich und seine letzten orangefarbenen Strahlen werfend, über einem fast milchigen hellblauen Himmel langsam im Meer versinkt. Das Gasthaus, in dem wir mit Marie abgestiegen waren, lag nur wenige Schritte davon entfernt, damals kamen wir hier jeden Tag vorbei, jeden Morgen überquerten wir die orangerote kleine Holzbrücke, die sich über den Kanal spannte. Ich überquerte die Brücke im bereits untergehenden Tageslicht, und ich fühlte, wie ich mich den Schatten der Vergangenheit näherte, die Örtlichkeiten wurden mir vertraut, ich erkannte das Museum für moderne Kunst wieder und eine Bank, auf der wir uns photographiert hatten. Es gab irgendwo in Paris ein Photo von Marie und mir auf dieser Bank, das Bernard geschossen hatte, und sogar ein Photo von uns dreien auf der orangeroten kleinen Brücke, aufgenommen von einer jungen Unbekannten, der Bernard den Apparat anvertraut hatte, bevor er zu uns gerannt war, und ich sehe uns drei aneinandergedrängt auf dem Photo, Bernard kerzengerade, ich unschlüssig, mit dieser etwas verlegenen und steifen Miene (jenem Lächeln eines Gerichtsmediziners, das ich häufig auf Photos trage), und Marie in der Mitte, verschmitzt lächelnd, im Ausdruck etwas zutiefst Selbstsicheres und Glückliches, den Blick verschleiert von einem Hauch von Gedanken, Marie an mich gedrückt, den Kopf leicht an meine Schulter gelehnt.
    Die Dunkelheit brach herein, als ich mich dem Gasthaus näherte. Die Straße war von einem Park gesäumt, hinter dem sich Schatten erahnen und unbestimmte Schreie vernehmen ließen, als plötzlich die grelle Flutlichtanlage eines Stadions anging und einen Baseball-Platz in der Abenddämmerung erleuchtete, der in wenigen Sekunden von Dutzenden von jungen Leuten überschwemmt war, die sich in verschiedene Gruppen aufteilten, einige wärmten sich auf dem Kunstrasen auf, dessen artifizielles Grün durch die Scheinwerfer hervorgehoben wurde, andere begannen bereits, sich lässig Bälle zuzuwerfen, sich in den Hüften zu wiegen, um den Ball zu schlagen, auf den Köpfen Baseball-Mützen und bekleidet mit den weiß-blauen Trikots der Yankees oder Dodgers. Ich war stehengeblieben, um ihnen hinter dem Zaun zuzuschauen, setzte dann meinen Weg fort im Dämmerlicht, die Straßenlaternen waren noch nicht angezündet, und die letzten Meter ging ich im Licht der Abenddämmerung, am Himmel über der Avenue, die in einiger Entfernung vorbeiführte, waren dramatische rosafarbene und schwarze Streifen zu sehen. Ein Weg aus flachen Steinen, auseinanderliegenden Steinplatten, schlängelte sich in einem Moosgarten hoch bis zum Eingang des Gasthauses, das von einer einzigen Steinlampe erleuchtet war. Ich war in der Mitte des Wegs stehengeblieben, im Schatten des Gebüschs, die Hände in den Manteltaschen. Ich betrachtete die stumme Fassade des Gasthauses, spähte nach einem Zeichen der Vergangenheit, einem Laut, einem Geruch, einem besonderen Detail, ich blieb so einige Minuten stehen, die Sinne geschärft, schließlich machte ich kehrt, ich hatte da nichts verloren.
    Auf dem Weg zurück zum Kanal kam ich noch einmal nahe an dem in Dunkelheit getauchten Heiligtum Heian vorbei, das Orangerot der Säulenhalle war jetzt wie nachtgedämpft. Ich verweilte auf dem großen freien Platz, ging dann zu den Pforten des Museums für moderne Kunst. Das Museum war geschlossen. Ich drückte mein Gesicht gegen die Scheibe und schaute eine Weile ins Innere, in den Räumen des Erdgeschosses war wenig zu sehen, eine Ausstellung wurde gerade aufgebaut, längs der Karniese standen Gerüste, auf dem Boden Plastikplanen,
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