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Tochter des Glueck

Tochter des Glueck

Titel: Tochter des Glueck
Autoren: Lisa See
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D er schrille Heulton einer Polizeisirene in der Ferne fährt mir durch alle Glieder. Grillen zirpen im Chor immer wieder dieselben Vorwürfe. Im Bett am anderen Ende der durch Fliegengitter abgeschirmten Veranda, die wir uns teilen, weint meine Tante leise vor sich hin – Nachwirkung des Elends und der Peinlichkeit der Geheimnisse, die sie und meine Mutter sich heute Abend im Streit an den Kopf geworfen haben. Meine Mutter kann ich nicht hören, ihr Zimmer ist zu weit weg. Diese Stille schmerzt. Ich klammere mich an die Laken, fixiere einen alten Riss an der Decke. Ich versuche verzweifelt, mich festzuhalten, aber seit dem Tod meines Vaters stehe ich an einem Abgrund, und nun habe ich das Gefühl, ich wäre über den Rand gestoßen worden und würde fallen.
    Alles, was ich über meine Geburt, meine Eltern, meine Großeltern und mich selbst zu wissen glaubte, war eine Lüge. Eine dicke, fette Lüge. Die Frau, die ich für meine Mutter hielt, ist eigentlich meine Tante. Meine Tante ist in Wirklichkeit meine Mutter. Der Mann, den ich als meinen Vater liebte, war überhaupt nicht mit mir verwandt. Mein richtiger Vater ist ein Maler aus Shanghai, den meine Mutter und meine Tante vor meiner Geburt beide geliebt haben. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs – wie Tante May sagen würde. Aber ich wurde im Jahr des Tigers geboren und will mich daher nicht von den quälenden Schuldgefühlen wegen des Todes meines Vaters und des Schmerzes über all diese Eröffnungen überwältigen lassen. Ich umklammere die Laken fester, recke das Kinn vor und versuche, diesen Gefühlen mit meiner Tigerwildheit beizukommen. Es funktioniert nicht.
    Ich würde gerne mit meiner Freundin Hazel sprechen, aber es ist mitten in der Nacht. Noch lieber wäre ich jetzt wieder an der Universität von Chicago, denn mein Freund Joe würde verstehen, was ich gerade durchmache. Ganz bestimmt.
    Um zwei Uhr morgens schläft meine Tante schließlich ein, und im Haus scheint alles still zu sein. Ich stehe auf und gehe in den Flur zum Wäscheschrank mit meinen Sachen. Jetzt höre ich meine Mutter weinen, und es bricht mir das Herz. Sie hat nicht die geringste Ahnung, was ich vorhabe, und selbst wenn, würde sie mich aufhalten? Ich bin nicht ihre Tochter. Warum also sollte sie mich daran hindern? Rasch packe ich das Nötigste zusammen. Dort, wo ich hinwill, werde ich Geld brauchen, und der einzige Weg, an Geld zu kommen, wird noch mehr Schande und Schmach über mich bringen. Ich husche in die Küche, schaue unter das Spülbecken und ziehe die Kaffeedose mit den Ersparnissen meiner Mutter heraus. Damit wollte sie mir das College finanzieren. Dieses Geld steht für all ihre Hoffnungen und Träume für mich, aber ich bin nicht mehr dieser Mensch. Sie war immer vorsichtig, und ausnahmsweise bin ich einmal froh darüber. Ihre Angst vor Banken und den Amerikanern finanziert nun meine Flucht …
    Ich suche Papier und einen Stift, setze mich an den Küchentisch und schreibe:
    Mom, ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich verstehe dieses Land nicht mehr. Ich hasse es dafür, dass es Dad umgebracht hat. Ich weiß, dass du jetzt glaubst, ich sei verwirrt und dumm. Das kann schon sein, aber ich muss Antworten bekommen. Vielleicht ist China doch meine wahre Heimat …
    Ich schreibe weiter, dass ich meinen leiblichen Vater finden möchte und sie sich keine Sorgen um mich machen soll. Den zusammengefalteten Zettel bringe ich zur Veranda. Tante May rührt sich nicht, als ich den Zettel auf mein Kopfkissen lege. An der Haustür zögere ich. Mein behinderter Onkel liegt in seinem Zimmer im hinteren Teil des Hauses. Er hat mir nie etwas Böses getan. Ich sollte mich von ihm verabschieden, aber ich weiß schon, was er sagen wird: »Kommunisten taugen nichts. Sie werden dich umbringen.« So etwas will ich nicht hören, und ich will nicht, dass meine Mutter und meine Tante durch ihn auf mein Verschwinden aufmerksam werden.
    Ich nehme meinen Koffer und trete hinaus in die Nacht. An der Ecke biege ich in die Alpine Street ein und gehe Richtung Union Station. Es ist der 23. August 1957. Ich möchte mir alles noch einmal genau einprägen, denn ich bezweifle, dass ich die Chinatown von Los Angeles jemals wiedersehen werde. Ich bin immer gerne in diesen Straßen herumgelaufen und kenne mich dort besser aus als sonst irgendwo auf der Welt. Hier kenne ich jeden, und jeder kennt mich. Die Häuser – es sind fast ausschließlich holzverschalte Bungalows – wurden chinafiziert, wie ich es
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