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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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der Hand, weg von mir, weg von ihrem beißenden Geruch und ihren ätzenden Dämpfen, und der Bursche war bleich geworden und hatte zu husten angefangen, Kehle und Zunge durch die Säure gereizt, und ging in kleinen Schritten rückwärts, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen, die Arme wie ein Schutzschild vor seinen Körper haltend, und jetzt lächelte er mir zu, seltsamerweise, so, als wollte er mir sagen, daß alles in Ordnung sei, daß ich bleiben könne, daß er es sei, der ginge.
    Ich verließ den Kontrollraum und trat in die Ausstellungssäle, die kleine Flasche noch immer in der Hand. Ich drang in der Schwärze des Museums weiter vor, verwirrten Blicks, ich spazierte durch die Ausstellung von Marie, die offene Flasche Salzsäure vor mir wie eine Kerze haltend, so weit wie möglich weg von Mund und Nase, um mir nicht die Atemwege zu verbrennen, ich schritt langsam in der Finsternis der Säle zwischen den an den Wänden aufgehängten Werken Maries, trug die weiße Glut meiner Kerze an ihren schweigenden Flächen vorbei, wie um sie zu erhellen und ihren Sinn aufzuklären, großformatige Photos, vier auf sechs Meter, Gesichter in Großaufnahme, manchmal das Gesicht Maries, vergrößerte Details des Gesichts von Marie. Ich wandelte zwischen Gliederpuppen, die mit ausgeschalteten Neonlichtern und elektrischen Drähten umwickelt waren und im Dunkeln wie Menschen wirkten, ich sah Schatten und reglose Profile mit dem Ausdruck von Mißtrauen, auf Metallsockeln stehend, manchmal einen Arm erhoben, wie versteinerte Statuen. In meinen Augen lag ein lebhafter Glanz, weit riß ich sie auf, um die Dunkelheit zu durchdringen, ich ging von Ausstellungssaal zu Ausstellungssaal, meine ärmliche ohnmächtige Kerze in der Hand, und ich fühlte, wie Maries Seele mich im Museum begleitete, ich spürte sie ganz nah bei mir, ich spürte ihre Gegenwart. Da hörte ich Schritte im Nebenraum. Ich konnte nichts sehen, meine ärmliche Kerze erhellte absolut nichts, ich war tief im Innern des Museums, und nur ein sehr schwacher Strahl des Mondes drang durch das Dach und warf einen weißlichen Schimmer auf den Boden des Nebenraums. Ich hatte Angst. Ich hörte, wie die Schritte sich näherten. Marie, sagte ich.
    Marie war da. Es war keine eigentliche Halluzination, denn die Szene fand jenseits jeder Visualisierung statt, in einer rein geistigen Sphäre, in einem flüchtigen Aufblitzen des Bewußtseins, so als erfaßte ich die Szene auf einen Schlag, als Ganzes, ohne eine ihrer potentiellen Komponenten zu entwickeln, die rasende Bewegung der Hand und die fliehende und zu Boden stürzende Gestalt, widerliche Gerüche von Dämpfen und verbranntem Fleisch, Schreie und der Lärm einer überstürzten Flucht auf dem Parkett des Museums, eine Szene, die gewissermaßen eingeschlossen blieb in der Schale der Unentscheidbarkeit der unendlichen Möglichkeiten von Kunst und Leben, aber die, als bloße Eventualität – und sei es des Schlimmsten – von einem Augenblick zum anderen Realität werden konnte. Marie, sagte ich leise, Marie. Ich zitterte leicht. Ich hatte Angst. Ich trat einen Schritt vor. Da war niemand. Ich wollte die Flasche mit Salzsäure wieder verschließen, aber fand den Verschluß nicht, meine Finger zitterten weiter, ich machte eine Kehrtwendung, ging zurück zum Licht. Das Licht war in der Eingangshalle des Museums angemacht worden, ein weißes helles Deckenlicht. Ich sah die Umrisse des jungen Mannes vorbeihuschen, der hinter einer Stellwand Schutz suchte, wo er reglos stehenblieb und mich belauerte. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ging ich an ihm vorbei und verließ das Museum, entfernte mich mit großen Schritten in der Nacht. Rennend folgte ich dem Weg zum Teich in der eisigen nächtlichen Luft, die mir die Wangen peitschte. In der Ferne, zwischen den Windungen des Pfades, sah ich die leicht gekräuselte Oberfläche der schwach vom Mond erhellten reglosen Wasserstelle. Ich hielt noch immer die Flasche mit der Salzsäure in der Hand, und ich hatte keine Ahnung, wo ich hingehen sollte. Ich schaute mich um, suchte mit den Augen eine Stelle, wo ich hinflüchten könnte. Ich verließ den Weg und drang ins vom Mondlicht gesprenkelte Unterholz, duckte mich, um dem Geäst auszuweichen, ging vorsichtig zwischen den großen gräulichen Baumwurzeln, um nicht zu stolpern. Ich drehte mich noch einmal um zum Eingang des Museums, dessen Metallportal offen geblieben war, und ich sah den jungen Mann in Begleitung zweier Uniformierter
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