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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord
Autoren: Schlink
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hindurchgingen. Wie Wehen – so jedenfalls stelle ich mir Wehen vor, und ich holte, wenn der Schmerz jeweils einsetzte, tief Luft. Die beiden Sanitäter machten beruhigende Bemerkungen, halfen mir auf die Trage und schlossen meine Vene an einen Tropf, aus dem ein Blutverdünnungsmittel floß. Sie trugen mich die fünf Stockwerke hinunter und luden mich in den Krankenwagen. Sie schalteten das Blaulicht ein; durchs Fenster sah ich seinen Reflex an der Hauswand. Dann schalteten sie auch die Sirene ein und fuhren los. Sie fuhren nicht schnell. Tropf und Plastikschlauch schwangen ruhig hin und her.
    Kam auch ein Beruhigungsmittel aus dem Tropf? Die Schmerzen ließen nicht nach. Aber in ihren Wellen und Tälern verschwammen die Eindrücke und verschwand die Angst in eine weinerliche Resignation.
    In der Notaufnahme ließ die Ärztin stärkere Mittel in mein Blut laufen. Sie sollten das Gerinnsel in meinem Herzen auflösen. Ich würgte Galle und wunderte mich, daß die Gallenblase mein dünnes Blut nicht mochte. Die Schwester wunderte sich nicht; sie griff nach einer bereitstehenden nierenförmigen Schale und hielt sie mir unters Kinn.
    Nach einer Weile wurde ich auf die Intensivstation gefahren. Flurdecken, Schwingtüren, Aufzüge, Ärzte in Grün, Schwestern in Weiß, Patienten und Besucher – ich nahm alles nur benommen wahr, als glitte ich in einem leisen Zug durch ein unverständliches Gewimmel und Gewirbel. Einmal ging die Fahrt durch einen langen Gang, leer bis auf einen Patienten in Schlafanzug und Morgenmantel, der mir gelangweilt, ohne Neugier und ohne Mitleid nachsah. Manchmal schaffte ich es, in die nierenförmige Schale zu würgen, die neben meinem Kopf lag, manchmal ging es daneben. Es roch widerwärtig.
    Der Schmerz hatte sich in meiner Brust eingerichtet. Als habe er im Aufund Abwogen meine Brust vermessen und wisse jetzt, daß sie ihm ganz gehört. Er war gleichmäßig geworden, ein gleichmäßiges Ziehen, ein Ziehen aus der Brust und in die Brust hinein. Nach ein paar Stunden auf der Station ließ er nach und hörte auch das Würgen auf. Ich war nur noch erschöpft, so erschöpft, daß ich es für möglich hielt, aus Erschöpfung einfach zu verlöschen.

19
Verbrechen aus verlorener Ehre
    Am Nachmittag kam Philipp und erklärte mir geduldig, was bei einem Angiogramm geschieht. Hatte man’s mir nicht schon mal erklärt? Ein Katheter wird eingeführt und zum Herz hochgeschoben, um Bilder zu machen. Vom pochenden Herz, von guten Arterien, von engen Arterien, von verstopften Arterien. Wenn man Pech hat, irritiert der Katheter das Herz so, daß es seinen Rhythmus nicht mehr findet. Oder er löst einen Thrombus, der sich auf die Wanderschaft macht und an entscheidender Stelle ein Gefäß verstopft.
    »Habe ich eine Wahl?«
    Philipp schüttelte den Kopf.
    »Dann mußt du mir auch nichts erklären.«
    »Ich dachte, es interessiert dich.«
    Ich nickte.
    Ich nickte auch, als mir der Chirurg nach dem Angiogramm erklärte, daß zwei Bypässe nötig wären. Ich wollte nicht wissen, warum und wie und wo. Ich wollte niemandem vormachen, ich hätte noch etwas zu sagen, den Ärzten und Schwestern nicht und mir schon gar nicht.
    Der Chirurg erzählte mir von einem Kollegen in Mosbach, der neun Bypässe bekommen und den Katzenbuckel bestiegen habe, den höchsten Berg des Odenwalds. Ich müsse mir keine Sorgen machen. Wir müßten mit der Operation nur ein paar Tage warten, bis das Herz sich erholt hätte und nicht mehr so anfällig wäre.
    Also wartete ich, und langsam ließ die Erschöpfung nach. Ich blieb müde. Die Müdigkeit ließ mich den Verlust meiner Autonomie verschmerzen, die Kanüle im Handgelenk, das Gesicht, das mich im Spiegel ansah, und daß beim Pinkeln die Hälfte danebenging. Ich dämmerte.
    Manchmal saß Brigitte an meinem Bett und hielt ihre Hand auf meine Hand oder meine Stirn. Sie las mir vor, und nach ein paar Seiten war ich müde. Oder wir redeten ein paar Sätze, von denen ich oft wenig später den Inhalt nicht mehr wußte. Ich bekam mit, daß Ulbrich immer noch oder wieder in Mannheim war, mich vergebens gesucht und schließlich sie gefunden hatte. Daß er aufgeregt war. Daß er mich unbedingt sprechen wollte, sei’s auch im Krankenhaus. Aber die Ärzte ließen außer Brigitte und Philipp niemanden zu mir, und mir war es recht.
    Dann sollte ich wieder gehen. Ich ging den Gang auf und ab und im Garten um den Teich und hatte Angst, eine unbedachte Bewegung könne das, was meine Arterien
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