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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord
Autoren: Schlink
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verstopfte, lösen und an eine andere, schlimmere Stelle wandern lassen. Ich wußte, daß die Angst töricht war. Ich hatte sie trotzdem. Ich hatte auch die Angst, daß die Schmerzen wiederkommen, daß das Herz außer Tritt geraten, daß es zu schlagen aufhören würde. Ich hatte Angst vor dem Sterben.
    Natürlich haben sich, während ich wartete, Bilder und Szenen aus meinem Leben eingestellt. Die Kindheit in Berlin, die Karriere als Staatsanwalt, die Ehe mit Klara, die Arbeit als Privatdetektiv, die Jahre mit Brigitte. Ich habe auch an meinen letzten Fall gedacht, den ich nicht so zu Ende gebracht hatte, wie ich ihn hatte zu Ende bringen wollen.
    »Ich bin froh, daß du Welker nichts getan hast. Es hat dich gebeutelt, aber nicht umgebracht. Du wirst schon wieder.«
    Erst später verstand ich Brigittes Bemerkung ganz. Ich las weder Zeitung, noch sah oder hörte ich Nachrichten. Aber eines Tages lag auf einer Bank im Garten ein alter Mannheimer Morgen, und die Schlagzeile sprang mir ins Auge: »Explosion in Schwetzingen.« Ich las, daß in einer Schwetzinger Bank eine Bombe detoniert war. Personen waren nicht ernstlich verletzt worden, aber der Sachschaden war erheblich. Der Attentäter, ein unlängst gekündigter Angestellter der Bank, wurde noch am Tatort mit leichten Verletzungen zuerst von anderen Angestellten festgehalten und dann von der Polizei festgenommen. Die Bombe war anscheinend früher detoniert, als er geplant hatte. Der Leitartikel nahm sich der Explosion an. Er ließ keinen Zweifel daran, daß ein Bombenanschlag nicht die richtige Antwort auf eine Kündigung war, mochte sie gerechtfertigt oder ungerechtfertigt sein. Aber er verwies darauf, daß der Attentäter aus Cottbus kam, daß die Mitbürger und Mitbürgerinnen aus den neuen Ländern sich nach fünfundvierzig Jahren Kommunismus auf dem freien Arbeitsmarkt schwertäten, daß ihnen Kündigungen an die Ehre gingen, und machte ein paar einfühlsame Bemerkungen über Verbrechen aus verlorener Ehre.
    Ich saß auf der Bank und dachte an Karl-Heinz Ulbrich. Ich würde Brigitte bitten, ihn im Gefängnis zu besuchen, ihm ein gutes Buch, einen guten Bordeaux und frisches Obst zu bringen. Sie sollte ihm auch Schachbrett und – figuren und die Partien zwischen Spassky und Kortschnoi bringen. Im Osten hat man Schach gespielt. Sie sollte Nägelsbach bitten, bei seinen alten Kollegen ein gutes Wort für ihn einzulegen. Verbrechen aus verlorener Ehre – der Leitartikler wußte nicht, wie recht er hatte.
    Dann mußte ich ins Krankenzimmer, mich von einer Ärztin anhand eines Bogens befragen und belehren lassen und unterschreiben, daß ich mit allem rechnete und auf alles verzichtete. Ich dachte, das sei es, aber sie hörte mein Herz ab, maß meinen Blutdruck, nahm mir Blut ab und untersuchte meinen After.
    Am nächsten Morgen rasierte eine Schwester mir mein Brust-, Bauch- und Schamhaar und sogar die Haare auf den Schenkeln, die für das Angiogramm schon mal rasiert worden waren. Brigitte mußte solange raus, als könne diese endgültige Nacktheit Furchtbares offenbaren. Als ich mich aufrichtete und an mir hinuntersah, rührte mich mein haarloses, schutzloses Geschlecht. Es rührte mich so sehr, daß mir die Tränen kommen wollten. Ich merkte, daß sie ein Beruhigungsmittel in die Infusion getan hatten.
    Bis zum Aufzug konnte Brigitte neben mir hergehen. Der Pfleger schob mich so hinein, daß ich sie sah, bis sich die Tür des Aufzugs schloß. Sie warf mir einen Kuß zu.
    Im Aufzug wurde ich schläfrig. Ich erinnere mich noch, wie ich aus dem Aufzug über einen Gang in den OP geschoben und auf den Operationstisch gehoben wurde. Ich erinnere mich als letztes an das grelle Licht der Lampe über mir, die Gesichter der Ärzte mit Mund- und Haar- schütz und dazwischen Augen, deren Ausdruck ich nicht deuten konnte. Wahrscheinlich gab es nichts zu deuten. Es ging an die Arbeit.

20
Am Ende
    Am Ende bin ich noch mal hingefahren.
    Warum? Ich wußte alles schon, und wenn ich es noch nicht gewußt hätte, hätte der Schloßplatz mir’s auch nicht gesagt. Daß Welker der halben Belegschaft gekündigt und die Sorbische verkauft hat. Daß er das Bankhaus Weller & Welker aufgelöst hat. Daß sein Haus in der Gustav-Kirchhoff-Straße zum Verkauf steht und er mit den Kindern weggezogen ist. Brigitte meint, nach Costa Rica, und daß seine Frau doch lebt und dort auf ihn wartet.
    Ich wußte auch, daß Ulbrich vor der Polizei und der Staatsanwaltschaft den Mund nicht aufgemacht
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