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Selbs Mord

Selbs Mord

Titel: Selbs Mord
Autoren: Schlink
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ERSTER TEIL
    1 Am Ende
    Am Ende bin ich noch mal hingefahren. Ich habe mich bei Schwester Beatrix nicht abgemeldet. Sie läßt mich nicht einmal die kurzen, ebenen Wege vom Speyerer Hof zum Ehrenfriedhof und zum Bierhelder Hof machen, geschweige den langen, steilen zum Kohlhof. Vergebens erzähle ich ihr, wie meine Frau und ich vor Jahren am Kohlhof Ski gefahren sind. Morgens ging es hoch, der Bus voll mit Menschen, Skiern, Stöcken und Schlitten, und bis es dunkel wurde, drängten wir uns zu Hunderten auf dem abgefahrenen, mehr braunen als weißen Hang mit der verfallenen hölzernen Sprungschanze. Mittags gab’s im Kohlhof Erbsensuppe. Klärchen hatte bessere Skier, fuhr besser, und wenn ich fiel, lachte sie. Ich nestelte an den Lederriemen der Bindungen und biß die Zähne aufeinander. Amundsen hatte mit noch altertümlicheren Skiern den Südpol erobert. Am Abend waren wir müde und glücklich.
    »Lassen Sie mich zum Kohlhof laufen, Schwester Beatrix, ganz langsam. Ich möchte ihn wiedersehen und mich an die alten Zeiten erinnern.«
    »Sie erinnern sich auch so, Herr Selb. Sonst könnten Sie mir nicht davon erzählen.«
    Alles, was Schwester Beatrix nach vierzehntägigem Aufenthalt im Krankenhaus am Speyerer Hof erlaubt, sind ein paar Schritte zum Fahrstuhl, die Fahrt ins Erdgeschoß, wenige Schritte zur Terrasse, über die Terrasse, die Stufen hinab und auf dem Gras rund um den Springbrunnen. Großzügig ist Schwester Beatrix nur mit dem Blick.
    »Schauen Sie, der schöne, weite Blick.«
    Sie hat recht. Der Blick aus dem Fenster des Zimmers, das ich mit einem magenkranken Finanzbeamten teile, ist schön und weit, über die Bäume auf die Ebene und die Berge der Haardt. Ich schaue hinaus und denke, daß dieses Land, in das mich im Krieg der Zufall verschlagen hat, mir ans Herz gewachsen und meine Heimat geworden ist. Aber soll ich das den ganzen Tag denken?
    So habe ich gewartet, bis der Finanzbeamte nach dem Mittagessen eingeschlafen war, habe leise und schnell den Anzug aus dem Schrank genommen und angezogen, den Weg zur Pforte gefunden, ohne einer Schwester oder einem Arzt zu begegnen, die ich kenne, und mir vom Pförtner, dem mein Status als flüchtiger Patient oder scheidender Besucher egal war, eine Taxe rufen lassen.
    Wir fuhren hinab in die Ebene, zuerst zwischen Wiesen und Obstbäumen, dann unter hohem Wald, durch dessen Wipfel die Sonne helle Flecken auf Straße und Unterholz warf, dann vorbei an einer Holzhütte. Früher war’s hier zur Stadt noch ein gutes Stück Wegs und machten die Wanderer vor der Heimkehr eine letzte Rast. Heute fangen nach zwei weiteren Kurven rechts die Häuser an und liegt wenig später links der Bergfriedhof. Am Fuß des Bergs warteten wir an der Ampel neben dem alten Kiosk, an dem ich mich immer gefreut habe: ein griechischer Tempel, der Vorplatz auf eine kleine Terrasse gebaut und das Vordach von zwei dorischen Säulen getragen.
    Die gerade Straße nach Schwetzingen war frei, und wir kamen rasch voran. Der Fahrer erzählte mir von seinen Bienen. Ich schloß daraus, daß er rauchte, und bat ihn um eine Zigarette. Sie schmeckte nicht. Dann waren wir da, der Fahrer setzte mich ab und versprach, mich in einer Stunde wieder abzuholen und zurückzubringen.
    Ich stand auf dem Schloßplatz. Das Haus war wieder hergerichtet. Es stand noch im Gerüst, aber die Fenster waren erneuert und der Sandstein des Sockels und der Tor-und Fensterfassungen gesäubert. Nur der letzte Anstrich fehlte. Dann würde es wieder genauso schmuck sein wie die anderen Häuser um den Schloßplatz, alle zweistöckig, gepflegt, mit Blumen vor den Fenstern. Was in das Haus kommen würde, Restaurant oder Café, Anwaltskanzlei, Arztpraxis oder Softwarefirma, war nicht angezeigt, und beim Blick durch die Fenster sah ich nur abgedeckte Böden und Malerleitern, -töpfe und -rollen.
    Der Schloßplatz war leer, bis auf die Kastanien und das Denkmal der unbekannten Spargelverkäuferin. Ich erinnerte mich an die Straßenbahn, deren Linie früher hier in einem Kreis auf dem Platz endete. Ich sah zum Schloß hinüber.
    Was erwartete ich? Daß im Haus das Tor aufginge und alle rauskämen, sich aufstellten, verbeugten und lachend auseinanderliefen?
    Eine Wolke zog vor die Sonne, und der Wind wehte kalt über den Platz. Mich fror. Es lag Herbst in der Luft.

2
Im Graben
    An einem Sonntag im Februar hatte alles angefangen. Ich war mit meiner Freundin Brigitte und ihrem Sohn Manuel auf dem Heimweg von Beerfelden nach Mannheim.
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