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Mitternacht

Mitternacht

Titel: Mitternacht
Autoren: Dean R. Koontz
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    Janice Capshaw machte es Spaß, nachts zu laufen.
    Janice zog beinahe jeden Abend zwischen zehn und elf Uhr den grauen Jogginganzug mit reflektierenden blauen Streifen auf Rücken und Brust an, streifte sich ein Stirnband über das Haar, schnürte die New Balance-Turnschuhe zu und lief sechs Meilen. Sie war fünfunddreißig, hätte aber als fünfundzwanzig gelten können, und sie schrieb das jugendliche Aussehen ihrer zwanzig Jahre währenden Hingabe ans Laufen zu.
    Sonntagnacht, am 21. September, verließ sie das Haus um zehn Uhr und lief vier Blocks nach Norden, zur Ocean Avenue, der Hauptstraße von Moonlight Cove, wo sie links abbog und zum öffentlichen Strand hinunterlief. Die Geschäfte waren geschlossen und dunkel. Abgesehen vom matten Messingglanz der Natriumdampflampen waren die einzigen Lichter die in den Wohnungen über den Geschäften, in der Knight's Bridge Tavern und in der katholischen Kirche Our Lady of Mercy, die rund um die Uhr geöffnet hatte. Auf der Straße fuhren keine Autos, kein Mensch war zu sehen. Moonlight Cove war schon immer eine ruhige kleine Stadt gewesen und mied den Tourismus, den andere Küstenstädte so begierig suchten. Janice gefiel der langsame, gemächliche Gang des Lebens hier, auch wenn die Stadt manchmal spätnachts nicht nur verschlafen, sondern tot wirkte.
    Als sie die kurvenreiche Hauptstraße entlanglief, durch bernsteinfarben erleuchtete Plätze, durch von windgebeugten Zypressen und Pinien geworfene, schichtweise Schatten, nahm sie außer ihrer eigenen keine Bewegung wahr - abgesehen vom dünnen Nebel, der sich träge und schlangengleich durch die windstille Luft voranschob. Die einzigen Geräusche waren das gedämpfte Platsch-platsch der Gummisohlen ihrer Joggingschuhe auf dem Gehweg und ihr keuchendes Atmen. Allem äußeren Anschein zufolge hätte sie der letzte Mensch auf Erden sein können, der sich auf einen einsamen Post-Armageddon-Marathon eingelassen hatte.
    Es gefiel ihr nicht, in der Frühe aufzustehen und vor der Arbeit zu laufen, und im Sommer war es angenehmer, ihre sechs Meilen zurückzulegen, wenn die Hitze des Tages nachgelassen hatte. Aber weder Abscheu vor den Morgenstunden noch die Hitze waren die tatsächlichen Gründe dafür, daß sie der Nacht den Vorzug gab; sie hielt sich im Winter an denselben Plan. Sie betrieb ihren Sport schlichtweg um diese Zeit, weil sie die Nacht mochte.
    Schon als Kind hatte sie die Nacht dem Tag vorgezogen, saß gerne nach Sonnenuntergang unter dem funkelnden Sternenhimmel im Garten, lauschte Fröschen und Grillen. Die Dunkelheit wirkte beruhigend. Sie machte die scharfen Kanten der Welt weicher, dämpfte die zu grellen Farben. Wenn die Dämmerung anbrach, schien der Himmel zurückzuweichen; das Universum dehnte sich aus. Die Nacht war größer als der Tag, in ihrem Reich schien die Welt mehr Möglichkeiten zu bieten.
    Jetzt kam sie an die Biegung der Ocean Avenue am Fuß des Hügels, sprintete über den Parkplatz und zum Strand. Am Himmel über dem dünnen Nebel zogen nur vereinzelte Wolken dahin, und der silberngelbe Glanz des Vollmonds spendete genügend Licht, daß sie sehen konnte, wohin sie lief. In manchen Nächten war der Nebel so dicht, der Himmel so verhangen, daß es nicht möglich war, am Strand zu laufen. Aber heute schäumte die weiße Gischt der ans Ufer rollenden Wellen mit geisterhafter Phosphoreszenz aus dem schwarzen Meer, und der breite Sandstreifen schimmerte blaß zwischen den wogenden Fluten und den Hügeln, und auch im Nebel selbst leuchteten sanft die Spiegelungen des herbstlichen Mondscheins.
    Als sie über den Strand zum festeren, feuchten Sand direkt am Wasser lief und sich südwärts wandte, um eine Meile bis zur Spitze der Bucht zu laufen, fühlte Janice sich herrlich vital.
    Richard - ihr verstorbener Mann, der vor drei Jahren einem Krebsleiden erlegen war -, hatte gesagt, ihr Biorhythmus wäre so sehr auf die Zeit der Mitternacht fixiert, daß sie mehr als nur ein Nachtmensch wäre. »Wahrscheinlich würde es dir gefallen, ein Vampir zu sein und zwischen Sonnenuntergang und Dämmerung zu leben«, hatte er gesagt, und sie hatte geantwortet:
    »Ich will dir das Blut aussaugen.« O Gott, sie hatte ihn so sehr geliebt. Anfangs hatte sie geglaubt, das Leben als Frau eines lutherischen Priesters könnte langweilig sein, aber das war es nie gewesen, nicht einen Augenblick. Er fehlte ihr auch drei Jahre nach seinem Tod noch jeden Tag - und in der Nacht noch mehr. Er war...
    Als sie an einer
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