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Sein letzter Burgunder

Sein letzter Burgunder

Titel: Sein letzter Burgunder
Autoren: Paul Grote
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Am Morgen danach   …
    Es war spät geworden. Kaum einer der Juroren war an diesem Abend vor Mitternacht ins Bett gekommen. Henry Meyenbeeker hatte das Spielcasino erst kurz vor ein Uhr verlassen, an den Spieltischen war allerdings noch rege gesetzt worden. Besonders der Roulettetisch, wo Alan Amber weiter spielte, war umlagert gewesen, als er gegangen war, weniger von Spielern als von Neugierigen. Sie brannten darauf zu erfahren, ob der Brite hier sein Waterloo erleben oder das Verlorene zurückgewinnen würde, und das war nicht wenig. Einige mochten es dem Weinkritiker gewünscht haben, aber bei der Mehrheit der Schaulustigen meinte Henry, Häme oder sogar Schadenfreude bemerkt zu haben. Es hatte ihn nicht gewundert. Die Unsterblichen des Olymps sollten ruhig mal richtig bluten. Einige Tausend Euro würden Amber nicht schmerzen.
    Von der Spannung der vergangenen Nacht war bei den Juroren, die in der Morgensonne jetzt dem Kongresszentrum zustrebten, nichts mehr zu bemerken. Knapp die Hälfte von ihnen waren Deutsche, sie gingen zusammen, der größere Teil war den Statuten nach Ausländer, auch die hielten sich an ihre Landsleute. Henry lebte im Ausland, war aber von Geburt Deutscher, seine Mutter Spanierin. Also   – was war er dann? Deutscher Ausländer oder ausländischer Deutscher? Folgte ihm hier etwa der Schatten des Migranten? Den hatte er in Barcelona nie bemerkt.
    Unter den Juroren wurde er als Deutscher geführt, obwohl er seit fast fünf Jahren nicht mehr im Land residierte, wo er immerhin die ersten fünfundvierzig Jahre seines Lebens verbracht hatte, von vielen Auslandsreisen abgesehen. Er selbst betrachtete sich als eine Mischung, deutsch-spanisch. Er fühlte sich in beiden Ländern gleichermaßen fremd und heimisch.
    Henry spürte die Frische eines jungen Tags und die Wärme der leichten Junisonne auf der Haut und dachte mit Blick in den supergepflegten Park, wo er sich gern ins Gras gelegt hätte, an die Prozedur der Einweisung. Sie war glücklicherweise zu einer menschlichen Zeit angesetzt worden. Die Leitung der Baden-Baden Wine Challenge wusste, was sie den Weintestern zumuten konnte, im Wissen, dass die Nacht davor lang geworden war. Der Anruf des Hotelweckdienstes hatte Henry zumindest nicht mehr aus dem Tiefschlaf gerissen, und die Nacht war lang genug und dunkel genug gewesen, um den Eklat bei Ambers Rede zu vergessen, fürs Erste jedenfalls. Mit einem Nachspiel allerdings musste er rechnen. Er war gespannt, wer ihn ansprechen würde, denn er war verantwortlich, er hatte für das Debakel gesorgt. Das würde Verlagschef Heckler ihm nicht verzeihen. Henry konnte sich durchaus vorstellen, dass man ihn bitten würde, abzureisen. Aber zu ernst durfte er die Angelegenheit nicht nehmen. Gehörte ein schöner Eklat nicht auch zum Unterhaltungsprogramm?
    Für ein Frühstück war genügend Zeit geblieben. Nur eine Tasse Kaffee hätte Henry nicht gereicht, wenn bis zum Mittagessen mehr als dreißig Weine probiert und bewertet werden mussten und danach noch mal knapp zwanzig. Der Kopf musste klar bleiben, wie die Sinne und die Urteilsfähigkeit.
    Einzeln, paarweise und in Grüppchen schlenderten die Juroren aus Holland, der Schweiz und Österreich durch den frühsommerlich erblühten Kurgarten, auch belgische Weinexperten waren hier, Griechisch sprach man und Französisch,Weinkenner aus Japan, den USA und Australien gehörten zu den Gästen ebenso wie ein Chinese und ein Mann aus Chile. Sie alle verhielten den Schritt auf der Brücke und starrten hinab ins flache Wasser der Oos und wünschten wohl, sich jetzt auf eine der Bänke ans Ufer setzen zu können, sich zurückzulehnen und den Sommertag zu genießen. Aber alle hatten ein gemeinsames Ziel   – das Kongresshaus: Hatte es am Abend zuvor den Eindruck vermittelt, von innen heraus zu glühen, so war es jetzt im Inneren der schlichten Konstruktion, deren Glaswände dem Beton- und Stahlbau aus den Sechzigerjahren die nötige Leichtigkeit verliehen, dunkel. Die großen Glastüren standen weit offen, und erst im weitläufigen Foyer fanden sich die Juroren gemeinsam vor den Tischen wieder, wo Namensschilder und Formulare für die Reisespesen ausgegeben wurden. Wer die Anwesenheitsliste unterschrieben hatte, hängte sich das Band mit dem Schild um den Hals, auf dem neben dem Namen auch Nationalität, Beruf und Jurygruppe vermerkt waren.
    An manches Gesicht erinnerte sich Henry aus der Nacht im Casino. So wie er schielten auch andere Teilnehmer auf die
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