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Der Kaiser des Abendlandes

Der Kaiser des Abendlandes

Titel: Der Kaiser des Abendlandes
Autoren: Hanns Kneifel
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    Oktober Anno Domini 1324: Herbst in Jerusalem
     
    Mitten in der Nacht, unter einem Himmel voller ungewöhnlich hell strahlender Sterne, stand Sean of Ardchatten auf einem schwankenden Baugerüst. Die schmale Sichel des Mondes leuchtete fade. In der Dunkelheit, in die Jerusalems Gassen getaucht waren, war Sean nur einer von vielen Schatten. Seine schwarzen weiten Hosen und die schwarze Kapuzenjacke, die ein dunkler Stoffgürtel zusammenhielt, zeichneten sich kaum von der Umgebung ab.
    Seit mehr als einem halben Jahr verließ Sean nun schon zwei bis drei Mal pro Woche das Haus der Gefährten und streifte durch die Stadt. Er war dabei jedoch selten allein, fast immer begleitete ihn sein Freund Suleiman. Auch heute, in der fast mondlosen Nacht, huschte der junge Araber unterhalb von Sean durch eine Gasse, die in pechschwarzer Finsternis lag, und erreichte einen menschenleeren Platz, der von Fledermäusen umflattert wurde. Beide Männer bewegten sich so geschickt, als hätten sie Katzenaugen. Das schwache Licht der Sterne und des Sichelmondes genügte ihnen, um sehen zu können, wonach sie suchten.
    Sean und Suleiman machten Jagd auf Bösewichter und Räuber. Männer, die Pilger, Bettler oder kleine Händler überfielen und ihnen die wenigen Münzen stahlen, die sie bei sich trugen – die kärgliche Ausbeute ihres Tagwerks. Niemand kannte die schwarz gekleideten Schatten; im Souk und im Basar nannte man sie »das Schwert, das den Armen hilft«. Solange man nicht »die Schwerter« sagte, konnten sie davon ausgehen, dass die Leute glaubten, ein Einzelner helfe den Armen und schwinge um ihrer willen des Nachts das Schwert.
    Wir finden sie alle, dachte Sean und kletterte die wackligen Sprossen der Gerüstleitern behänd und geräuschlos hinab. Zwei Zypressen, deren Blätter im schwachen Nachtwind leise raschelten, zeichneten sich schwarz gegen den Sternenhimmel ab. Trotz der Dunkelheit hatte Sean genug gesehen: Suleimans Schwert war im milchigen Licht der Nacht aufgeblitzt. Der Freund schien etwas Verdächtiges beobachtet zu haben, sonst hätte er seine Waffe nicht gezückt.
    Von der letzten Sprosse aus sprang Sean zu Boden. Seine weichen Schuhe, die er zusammen mit Suleiman in einer kleinen Schuhmacherwerkstatt in Jerusalem erstanden hatte, federten den harten Aufprall gut ab. Wieder einmal dachte Sean, was für ein kluger und geschickter Mann sein Freund doch war. Der junge Araber beherrschte alle Listen und Kniffe, die in den Überresten der Mauern von Jerusalem zum Überleben nötig waren, in Vollendung. Fast lautlos schlich Sean in die Richtung, aus der er Suleimans Schwert hatte aufblitzen sehen.
    Aus einem Spalt zwischen zwei Häusern zischte ihm eine Stimme zu: »Ein betrunkener Händler, Sean. Auf dem Platz der Tamarisken.«
    Sean blieb stehen, machte zwei Schritte zur Seite und stieß gegen eine Mauer. Neben ihm schälte sich eine dunkle Gestalt aus der Finsternis.
    »Ich habe keine Verfolger gehört oder gesehen«, flüsterte Sean. »Siehst du mehr?«
    Suleiman nickte. »Ich habe Stimmen gehört. Am Rand des Platzes«, entgegnete er.
    Welch ein Unterschied, welch ein Wandel!, dachte Sean. Noch im Frühling war er in der Stadt ein Fremder gewesen, der über alles gestaunt hatte, was man dort sehen und erleben konnte. Im Schutz des Hauses nahe dem jüdischen Viertel, das Uthman von seinem Vater geerbt hatte, hatten Suleiman und die Gefährten ihm dann während der ersten Wochen seines Aufenthalts die Furcht, in der großen Stadt verloren zu gehen, genommen. Und jetzt streifte er bereits wie ein Dschinn durch die Klüfte, Schluchten und Spalten, die sich in ihrem Gefüge auftaten, wie eine Eule auf der Jagd nach Mäusen, ganz so, als hätte er nie etwas anderes getan.
    »Los! Zum Platz. Wenn sie’s auf den Betrunkenen abgesehen haben, packen wir sie«, wisperte Sean und folgte Suleiman, der schnell, aber lautlos in der Mitte der schmalen Gasse auf deren Ende zu huschte.
    Nach etwa hundert Schritten erreichten sie den Rand eines kleinen, fast runden Platzes, an dessen äußerem Ring drei mittelgroße Tamarisken wuchsen. Das helle Sandsteinpflaster reflektierte das fahle Mondlicht und gestattete ihnen, Einzelheiten zu erkennen. Aus dem Maul einer etwa acht Handbreit großen, gemeißelten Fratze an einer Häuserwand rann ein fingerdünner Wasserstrahl in ein steinernes Becken. Dort sammelte sich das Wasser und lief über den Rand des Beckens auf das Pflaster. Vielleicht hatten die Nadeln der
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