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Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall

Titel: Schmuddelkinder - Lenz sechster Fall
Autoren: Matthias P Gibert
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1
    Dieter Bauer ging mit gesenktem Kopf und auf den
ergonomisch geformten Griff seines Stockes in der linken Hand gestützt die
letzten Meter bis zu seinem Haus, kramte das dicke Schlüsselbund aus der
Hosentasche und steckte den kleinen Sicherheitsschlüssel ins Schloss. Mit einem
kräftigen Ruck, den man dem alten, gebückt gehenden Mann nicht zugetraut hätte,
zog er die Tür zu sich heran, drehte seine Hand nach links und schob das
schwere Holzblatt nach vorne. Dann betrat er den Hausflur, zog sich umständlich
den schwarzen Sommermantel von den Schultern und hängte ihn an die Garderobe.

     
    Nun war es vorbei und seine
Frau unter der Erde. Ihr Tod eine Woche zuvor war eine Erlösung gewesen für den
72-jährigen Mann aus Baunatal, der VW-Stadt vor den Toren Kassels. Seit mehr
als neun Jahren hatte Lore Bauer dem Krebs in ihren Brüsten immer wieder Zeit
und damit Leben abgetrotzt. Doch nach und nach hatten die Tumore ihren Körper
zerfressen, besonders aggressiv in den letzten Monaten. Nach den Operationen
vor neun und vor sechs Jahren hatten Chemotherapie und Bestrahlungen sich in
unschöner Regelmäßigkeit abgewechselt. Dieter Bauer hatte seine Frau bis zum
Schluss aufopfernd gepflegt und ihr quasi jeden Wunsch von den trüber und
trüber werdenden Augen abgelesen. Die letzten Wochen waren die Hölle gewesen
für den Mann, auch, weil sie ihn nicht mehr erkannt hatte. Jetzt stand er im
Flur des viel zu großen Hauses im Stadtteil Kirchbauna und betrachtete sein
zerfurchtes Gesicht im Spiegel. Wie lange, dachte er, werde ich mich plagen
müssen mit der nun einsetzenden Einsamkeit und den zunehmend unangenehmer
werdenden Zipperlein des Alters?
    Bevor er über eine Antwort nachdenken konnte,
zuckte er wegen der laut und grell lärmenden Klingel über seinem Kopf zusammen,
drehte sich langsam um und ging zur Tür.
    »Ja, bitte«, begrüßte er den Mann auf der Treppe nicht
besonders höflich, nachdem er ihn von oben bis unten gemustert hatte.
    »Hallo, Herr Bauer«, erwiderte der Besucher freundlich. »Ich
wollte Ihnen persönlich mein Beileid aussprechen zum Tod Ihrer Frau.«
    »Kennen wir uns?«, wollte Bauer irritiert wissen, nachdem er
das teilweise vom Schild einer Baseballkappe verdeckte Gesicht des Mannes
erneut betrachtet hatte. Ohne zu antworten, drängte der sich an ihm vorbei und
stand ein paar Sekundenbruchteile später im Hausflur.
    »Schön hier«, erklärte er selbstbewusst.
    »Was fällt Ihnen ein?«, herrschte Bauer den Eindringling an,
doch der nahm überhaupt keine Notiz vom Ärger des Witwers und ging langsam
weiter ins Wohnzimmer. Der alte Mann folgte ihm, so schnell es seinen müden
Beinen möglich war, und baute sich mit seinem drohend geschwungenen Stock in
der Hand vor ihm auf.
    »Verlassen Sie sofort mein Haus, sonst verständige ich die
Polizei«, rief er.
    »Spul dich nicht so auf, grauer Mann. Die Zeiten,
in denen du nach Lust, Laune und Gutsherrenart schalten und walten konntest,
sind lange vorüber.« Damit griff er nach der Gehhilfe, riss sie in seine
Richtung und sah belustigt dabei zu, wie sein Gegenüber der Länge nach zu Boden
stürzte.
    »Was …?«, wollte Bauer fragen, doch der nun bedrohlich und
gefährlich wirkende Gast schnitt ihm mit einer kurzen Bewegung seiner rechten
Hand das Wort ab.
    »Tut weh, wenn man seine Frau verliert, was?«
    Bauer hob den Kopf und hatte dabei den Eindruck, dass er
diesen groß gewachsenen, mit Jeans und Lederjacke bekleideten Mann irgendwo
schon einmal gesehen hatte. »Wenn Sie Geld wollen, bitte …«
    Wieder die Handbewegung des Mannes über ihm. »Es gab Zeiten,
in denen sich viele Menschen gewünscht haben, dass du mit dem Geld, das nicht
dir gehörte, sondern ihnen, großzügiger und fairer umgegangen wärst. Das war
die Zeit, in der du Dreckschwein das Geld anderer Leute verwalten durftest und
das scham- und gewissenlos für deine Zwecke ausgenutzt hast.«
    Noch immer war sich Bauer nicht sicher, ob er den Mann
tatsächlich kannte. Ja, vielleicht. Die Mundpartie kam ihm bekannt vor. Er hatte
keinen Namen parat, noch nicht, aber das würde wiederkommen. Er konnte sich an
alle erinnern, auch wenn es manchmal ein wenig dauerte. Er kannte ihn. Oder
täuschte er sich diesmal? Mit geschickten Bewegungen, die erahnen ließen, dass
dieser Körper einmal gut trainiert gewesen sein musste, drückte Bauer sich vom
Boden ab und wollte aufstehen, doch sein Besucher sprang einen Schritt nach
vorne
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