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Sein letzter Burgunder

Sein letzter Burgunder

Titel: Sein letzter Burgunder
Autoren: Paul Grote
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Drohbriefe, die sie erhalten hatte, inzwischen waren es drei   …
    »Mrs.   Josephine Rider, aus London, wie ich vermute?« Er gab ihr erfreut die Hand. »Von Ihnen habe ich viel gehört, nur Gutes   – und gelesen. Sie schreiben für das britische ›Decanter Magazine‹? Ich halte es für das beste Weinmagazin überhaupt, und zwei Ihrer Bücher stehen in meinem Büro.«
    Das dankbare Lächeln Mrs.   Riders strafte ihre Erscheinung Lügen. Keiner ist, was er scheint, dachte Henry, wandte sich der anderen, elegant, aber konservativ gekleideten Dame zu und deutete eine Verbeugung an.
    Es war die Schweizerin Beatrix Stöckli aus Winterthur. »Ich verkaufe unseren lieben Mitmenschen das, was sie glücklich macht.«
    Henry lächelte und war gespannt, wo sich ihre Bewertungen decken würden.
    Der Nächste, dem er die Hand schüttelte und der fest zugriff, war der Winzer François Dillon von der Loire. Er kam aus Sancerre. »Sauvignon Blanc ist meine Spezialität«, sagte er, und Henry fragte sich, ob die Weine eines groben Winzers fein ausfallen konnten. Gleichzeitig merkte er, dass er der Begrüßung des blonden Mannes am Tisch auswich, der ihn über seine randlose Lesebrille hinweg aus blauen Augen beobachtete. Er trug, anders als der hemdsärmelige Winzer, einen Anzug mit karierter Fliege und hatte sein Haar zu einem Zopf gebunden. Nichts passte. Henry war gespannt auf die Stimme.
    Mehr als ein sonores und dabei distanziertes »Good Morning« kam nicht, nicht einmal der Name. Henry musste sich hinunterbeugen, um den Namen auf dem Schild zu lesen, das Bram van Buyten neben der Mappe mit den Verkostungsbögenabgelegt hatte. Er war Wein-Großhändler aus Rotterdam. Die Abneigung war spontan und gegenseitig.
    Der Italiener Paolo Castellani war von anderem Kaliber. Der Önologe aus Meran in Südtirol, dunkler Anzug, weißes, offenes Hemd, stand auf und hätte Henry fast umarmt.
    »Sie sind auf dem Weg zur Weinmesse in Verona oder an die Adria sicher bei uns vorbeigekommen, durch unser wunderschönes Tal gerast, ganz bestimmt zu schnell, auf dieser schrecklichen Brenner-Autobahn.«
    »Das stimmt, man fühlt sich zwischen den Leitplanken wie eingesperrt, zum Weiterfahren gezwungen, einen Zwanzigtonner im Nacken, dabei möchte man bleiben   …«
    »Autobahnen sind eine deutsche Erfindung.«
    Mrs.   Rider unterbrach sie auf Deutsch, der für Engländer typische Akzent gefiel Henry, ihm lag ihre bescheiden snobistische Art. Er wunderte sich sowieso, dass er der einzige Deutsche war und alle anderen die Sprache ebenfalls beherrschten.
    »Meine Herren, wir werden in den nächsten Tagen sicher ausführlich Gelegenheit haben, uns auszutauschen, aber jetzt sollen wir arbeiten. Vor Ihnen liegt Ihr persönlicher Aktenordner mit den Bewertungsbögen. Es gibt einen für jeden Juror und jeden Wein. Die Flights, also die zuvor   …« Sie suchte nach dem richtigen Wort.
    Henry half ihr aus: »…   in Gruppen nach gemeinsamen oder ähnlichen Merkmalen zusammengestellten Weine   …«
    Sie nickte ihm vornehm zu. »…   sind von einem grauen Zwischenblatt getrennt. Alle Bögen sind nummeriert. Es lässt sich also genau zurück   …
well
… nachprüfen, wer welchen Wein wie und mit welcher Punktzahl bewertet hat. Oh   …
well
… ich muss erklären   … dass ich nur ersatzweise eure Teamleiterin, Vorsitzerin des Tisches bin, weil   …«
    Sie war endgültig aus dem Konzept und ins Stammeln gekommen, denn sie hatte sich von Koch und seiner Hampelei ablenken lassen. Er war mit erhobenen Händen in denSaal getreten, als stünde jemand mit einem Revolver hinter ihm, und ging zur Fensterfront, das Licht im Rücken. Er bat um Ruhe. Das Gemurmel verstummte nur widerwillig, und erst in der absoluten Stille ließ er sich oberlehrerhaft herab, das Prozedere zu erklären, wobei ihn Verlagschef Heckler von der Tür aus beobachtete.
    Alle gemeinsam würden jetzt den Referenzwein probieren, die Ergebnisse der Beurteilung in den Musterbogen eintragen, und der Vorsitzende des Tisches würde das Ergebnis vor dem Auditorium präsentieren. So könne man die Bewertungen harmonisieren und das eigene Urteil hinterfragen.
    An der fensterlosen Längsseite des Saals standen die Tische mit Batterien verhüllter Flaschen. Die Eleven der hiesigen europäischen Hotelfachschule, ganz in Schwarz mit langer weißer Schürze als Kontrast, warteten mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf das Signal zum Einschenken. Jeder Tisch hatte seinen eigenen
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