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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind /
Autoren: Sabine Kuegler
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Teil 1
    Vor einigen Jahren …
     … fragte mich eine Bekannte, ob ich nicht Lust hätte, ein Buch über mein Leben zu veröffentlichen. Ich verstand damals nicht recht, was an meinem Leben denn so interessant sein sollte, dass irgendjemand darüber würde lesen wollen.
    Ich hatte selten über meine Kindheit gesprochen oder woher ich eigentlich kam. Stattdessen versuchte ich jahrelang, mich anzupassen und so zu werden wie jeder normale Mensch in meinem Umfeld. Eine Kultur und ein Leben anzunehmen, die mir im Grunde fremd sind. Und obwohl es mir äußerlich gut gelingt, finde ich keinen inneren Frieden und nicht die Zugehörigkeit, nach der ich mich so sehne.
    Ich bin unglücklich, fühle mich oft sehr verloren, wie ein Geist, der nie zur Ruhe kommt. Ich lebe das Leben eines Vagabunden, ziehe von einem Ort zum anderen und hoffe jedes Mal, an diesem neuen Ort mein Glück und den Frieden zu finden, den ich mir so sehr wünsche. Doch immer wieder werde ich enttäuscht.
    Mein Leben vergeht, ich werde älter, und langsam frage ich mich, wohin ich eigentlich gehöre. Immer öfter denke ich an meine Kindheit zurück. Nach fünfzehn Jahren in der modernen Welt müsste ich mich doch perfekt angepasst haben. Kann die Kindheit einen Menschen so prägen? Dann wieder überlege ich mir, was wohl wäre, wenn man ein 17-jähriges deutsches Mädchen in der Welt aussetzen würde, in der ich aufgewachsen bin. Wäre es für sie anders?
    All diese Fragen gehen mir durch den Kopf. Ich habe das Gefühl, nicht richtig zu leben, sondern nur zu existieren. In mir brennt eine Sehnsucht, die ich nicht genau beschreiben kann, ein Heimweh nach etwas, das verloren scheint. Es ist, als wäre ich irgendwann oder irgendwo stehen geblieben, als hätte ich irgendetwas nicht beendet.
     
    So habe ich mich entschieden, meine Geschichte aufzuschreiben – in der Hoffnung, mich selbst zu finden und zu akzeptieren, dass ich anders bin, immer anders sein werde. Und um vielleicht zu erkennen, wo ich wirklich hingehöre.

Meine Geschichte
    I ch möchte eine Geschichte erzählen, die Geschichte eines Mädchens, das in einem anderen Zeitalter aufwuchs … eine Geschichte von Liebe, Hass, Vergebung, Brutalität, und von der Schönheit des Lebens. Es ist eine wahre Geschichte … es ist meine Geschichte.
     
    Es muss Anfang Oktober gewesen sein. Ich bin 17 Jahre alt, trage eine dunkle Hose, die mir zu groß ist, einen gestreiften Pullover und Halbschuhe, die überall drücken und mir das Gefühl geben, meine Füße werden zerquetscht. Sie tun weh, weil ich bis zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben ganz selten Schuhe getragen habe. Meine Jacke sieht aus wie aus dem vorigen Jahrhundert (und das ist sie wahrscheinlich auch). Dunkelblau mit einer Kapuze, die mir, als ich sie aufsetze, über die Augen fällt. Es sind Kleider, die ich geschenkt bekommen habe.
    Mir ist eiskalt, ich zittere, meine Hände und Ohren kann ich kaum noch spüren. Ich trage weder ein Unterhemd noch Handschuhe, Schal oder eine Mütze. Ich habe mich nicht mehr daran erinnert, wie man sich im Winter anzieht. Ich kenne den Winter kaum.
    Ich stehe auf dem Hauptbahnhof in Hamburg. Eisiger Wind pfeift über den Bahnsteig. Es ist kurz nach neun oder zehn, ich weiß es nicht mehr genau. Man hatte mich am Bahnhof abgesetzt und mir erklärt, wie ich den richtigen Zug finde … alles mit vielen Zahlen verbunden. Nach einiger Zeit bin ich tatsächlich auf dem richtigen Bahnsteig angekommen; es ist die Nummer 14.
    Sabine Kuegler 2004
    Ich trage eine Tasche bei mir, die ich ganz fest an mich drücke, und einen Koffer, der das Wenige enthält, das ich mitnehmen konnte. In meiner Hand der Fahrschein, auf den ich zum hundertsten Mal schaue, um mir noch einmal die Nummer meines Waggons einzuprägen.
    Ich bin nervös, all meine Sinne sind auf Hochtouren. Ich beobachte misstrauisch die Menschen um mich herum und bin bereit zuzuschlagen, sollte mich jemand angreifen. Aber niemand scheint mich zu beachten.
    Es ist alles so neu für mich, so fremd, dunkel und bedrohlich. Ich schaue die Gleise entlang, als ich eine Durchsage höre. Nur zum Teil verstehe ich, was gesagt wird, so viel Lärm ist um mich herum! Ich beobachte, wie sich das Gefährt nähert, das mich in mein neues Leben bringen soll. Meine Augen werden immer größer, denn heute, mit 17 Jahren, sehe ich zum ersten Mal einen richtigen Zug.
    Er kommt mit so hoher Geschwindigkeit auf mich zu, dass ich vor Schreck ein paar Schritte zurückweiche.
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