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Seegrund

Seegrund

Titel: Seegrund
Autoren: Kobr Michael Kluepfel Volker
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Kopf in Richtung des Leichnams. Obwohl es so kalt war, dass sein Atem wie eine weiße Wolke vor seinem Gesicht schwebte, wurde ihm mit einem Mal unangenehm heiß. Das Blut, das den Schnee so rot gefärbt hatte, musste aus einer riesigen Wunde sein. Übelkeit kroch seine Kehle hinauf. Er drehte sich wieder weg und pfiff unzusammenhängende Töne in die Winterlandschaft. Nach wenigen Sekunden wurde ihm bewusst, wie erbärmlich das war, und er presste die Lippen wieder zusammen.
    Himmelherrgottsakrament, du bist Kriminalbeamter, jetzt reiß dich mal ein bisschen zusammen, schimpfte er in Gedanken mit sich selbst. Es wäre ziemlich peinlich, wenn er die Fragen seiner Kollegen alle mit einem »Weiß nicht. Hab nicht hingeschaut« würde beantworten müssen.
    Er ging ein paar Schritte auf den Körper zu und betrachtete alles genau. Sein Verstand übernahm nun wieder die Regie und verdrängte das Unbehagen, das ihn eben noch gelähmt hatte.
    »Was ist mit dir passiert?«, fragte er halblaut. Es war eine alte Angewohnheit des Kommissars, am Tatort imaginäre Gespräche zu führen.
    »Das hilft mir, meine Gedanken zu ordnen«, sagte er immer, wenn ihn jemand darauf ansprach. Sein Blick wanderte an dem Körper entlang zum Wasser. Der Taucheranzug glänzte in der Sonne. Jetzt erst fiel ihm auf, dass der Mann weder die dazugehörige Brille trug noch irgendwo eine Sauerstofflasche zu sehen war. Er verbiss sich einen Fluch – so wichtige Details hätte er sofort entdecken müssen.
    »Na gut, du wolltest also tauchen gehen. Mitten im Winter? Da musst du ja schon einen ganz besonderen Grund gehabt haben. Und ohne Luft und Brille wolltest du sicher nicht ins Wasser, denk ich mir.«
    Die alles beherrschende Frage in Kluftingers Kopf war nun: Warum hatte der Mann so viel Blut verloren? Im Wasser konnte er sich diese Verletzung wohl kaum zugezogen haben, sonst hätte er es sicher nicht mehr bis ans Ufer geschafft. Aber wenn er an Land verletzt worden wäre, hätten irgendwo Blutspuren zu seiner jetzigen Position fuhren müssen. Das heißt: Es hätten überhaupt irgendwelche Spuren hierher und vor allem von hier weg führen müssen. Er musste also direkt aus dem See gekommen sein, denn da war nur dieser unbeschreiblich große, rote Kreis inmitten unberührten, makellos weißen Schnees.
    Er schloss die Augen. Und dann sah er es. Es war paradox, aber bei ihm funktionierte das fast immer. Wenn er die Augen schloss, blieb ein Bild zurück, das ihm in der Regel mehr sagte als das, das er mit offenen Augen sah. In seinem Kopfbild konnte er Gegenstände beliebig aus- oder einblenden, umstellen und neu arrangieren. Er öffnete die Augen wieder. Tatsächlich, er hatte sich nicht getäuscht, da war etwas. Beide Arme des Mannes waren weit vom Körper weggestreckt, die linke Hand ragte mit den Fingerspitzen aus dem Blutkreis heraus. Und dort, direkt neben der Hand und teilweise von ihr verdeckt, war ein Zeichen. Kluftinger sah es jetzt ganz deutlich. Dunkelrot und tellergroß prangte es auf dem Schnee. War das ein Buchstabe? Ein Bild? Ein Symbol? Es war mit zittriger Hand gezogen und sah irgendwie altertümlich und unheimlich aus, auch wenn Kluftinger nicht hätte erklären können, warum.
    Die rechte Hand des Mannes war verdreht, schien gebrochen oder verrenkt. Wenn er Rechtshänder war, würde das zumindest die ungelenke Linienführung erklären. Außerdem musste er es im Todeskampf hier in den Schnee gezeichnet haben: einen Kreis mit drei davon ausgehenden, am Ende geknickten Linien.

    Kluftinger schauderte bei dem Gedanken, dass dies die letzte Botschaft war, die der Sterbende der Nachwelt hatte zukommen lassen – möglicherweise der Schlüssel zu diesem … diesem Vorfall, dachte der Kommissar. Einen Fall wollte er es zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht nennen. Doch was sollte dieses kryptische Zeichen bedeuten?
    Wenn dieser Hinweis sie zum Mörder führen sollte, dann musste er alles tun, um ihn zu konservieren. Doch wie sollte er das anstellen? Schließlich wollte er andererseits ja auch nichts an der Lage des Mannes verändern. Da fiel ihm sein Handy ein. Erst zu seinem letzten Geburtstag hatte er von seiner Frau eines dieser neuen Geräte bekommen. Nicht, dass er sich ein Handy gewünscht hätte – er hatte damals eher auf einen neuen Akkuschrauber spekuliert – sie hatte nur argumentiert, dass er erstens mit seinem Diensthandy, das der Größe nach zu schließen noch aus einer der ersten Baureihen stammen musste, immer seine Hosen
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